Das Pestkind: Roman (German Edition)
einen oder anderen Tautropfen funkeln. Pater Franz durchbrach die Stille.
»Aibling ist von den Schweden geplündert und besetzt worden. Zwei Mönche aus einem Kloster in Baldham haben sich mit Müh und Not zu uns durchgeschlagen. Für einen von beiden sieht es schlecht aus. Er hat eine eitrige Wunde am Bein und hohes Fieber. Der andere berichtete von schrecklichen Greueltaten und unsagbarem Leid.«
Marianne begann trotz der wärmenden Sonnenstrahlen zu frieren.
»Was bedeutet das?«, fragte sie.
»Gewiss werden sie bald kommen. General Wrangel wird es sich nicht entgehen lassen, Rosenheim zu plündern.«
Marianne sah den Mönch entsetzt an. Pater Franz zuckte mit den Schultern.
»Wir können nichts tun. Eine ganze Stadt kann nicht fortlaufen.«
Hilflos blickte Marianne auf das Kind in ihrem Arm, und plötzlich überrollte sie die Furcht vor dem Unbekannten, den grausamen Geschichten, die so mancher Wanderer in der Gaststube erzählt hatte. Aibling war nicht weit und die Gefahr zum Greifen nah. Eben hatte sie sich noch Sorgen um die Brauerei, um Anderl und sogar um Hedwig gemacht, und jetzt …
Pater Franz verstand die Furcht in den Augen seines Mündels, das ihm sehr ans Herz gewachsen war. Marianne war trotz aller Widrigkeiten zu einer gottesfürchtigen, herzensguten jungen Frau herangewachsen, die er immer, soweit es in seiner Macht gelegen hatte, beschützte. Seit dem Tag, als er sie bei Pfarrer Angerer abgeholt hatte, war er bestrebt gewesen, ihr ein gutes, gerechtes Leben zu ermöglichen, doch ob er sie jetzt noch beschützen konnte, wusste er nicht, geschweige denn, ob er das Kloster und sich selbst retten konnte.
Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Arm.
»Vielleicht wird es ja nicht so schlimm.«
Marianne sah den Mönch ungläubig an. Glaubte er, was er da sprach? Pater Franz seufzte.
»Das hoffe ich wenigstens.«
Er blickte auf das schlafende Kind in Mariannes Arm.
»Es wird gewiss nicht lange dauern.«
Marianne nickte traurig.
»Ja, sie hat es bald geschafft.«
Am späten Nachmittag desselben Tages saß Marianne auf einem umgestürzten Baumstamm neben dem alten Ziehbrunnen in dem Hof ihrer Eltern in Kieling und ließ ihren Blick schweifen. Das Haupthaus war verfallen, durch die Fenster wuchsen wilde Rosen und Efeu, die Tür fehlte. Die Stallungen waren ebenfalls zerstört, Brombeergestrüpp wucherte über die Steine und Hölzer und verdeckte den Ort, der sich am stärksten in ihrer Erinnerung eingeprägt hatte. Der Verschlag im Stall war zugewuchert.
Sie schloss die Augen. Der Wind streichelte ihre Wangen, und plötzlich waren ihre Erinnerungen wieder da. Die Hühner liefen gackernd um sie herum, die Pferde wieherten auf den Weiden, das Grunzen der Schweine aus dem Stall war zu hören, ebenso Alma, die, ein Lied summend, am offenen Küchenfenster stand. Der Vater fuhr mit einem Fuhrwerk voller Heu auf den Hof und winkte ihr lachend zu. Die Knechte machten sich daran, die Ernte abzuladen und im Heuschober zu verstauen. Das warme Gefühl der Geborgenheit breitete sich in Marianne aus und entführte sie in eine Welt, die es schon lange nicht mehr gab, ließ sie teilhaben am Leben von Menschen, die tot waren.
Sie öffnete die Augen. Hier gehörte sie her, nicht nach Rosenheim, in die Brauerei oder ins Kloster. Das hier war ihre Heimat, der Ort, an dem ihre Seele war. Doch was half das viele Grübeln, denn ihr Zuhause bestand nur noch aus Trümmern und Erinnerungen. Sie griff traurig in ihre Rocktasche und holte die kleine Goldkette mit dem Engelanhänger hervor. Der Engel schimmerte im Licht der Sonne. Er war so wunderschön und sollte ihr Glück bringen, sie beschützen, hatte Alma gesagt. Doch Glück suchte sie bis heute vergebens, stattdessen begleiteten Schimpf und Schande sie. Die Geächtete, das Pestkind wurde sie genannt, und nichts und niemand würde daran jemals etwas ändern.
Sie stand auf, ließ die Kette in ihre Rocktasche gleiten und schlug den Weg zur Kielinger Kirche ein.
Der Kielinger Friedhof lag im Schatten großer Eichen, in denen der heiße Sommerwind rauschte. Die kleine Dorfkirche wirkte heruntergekommen, der Putz bröckelte von den Wänden, und auf dem Dach fehlten einige Ziegel. Marianne liebte den stillen Ort, an dem die schmiedeeisernen Grabkreuze mit ihren vielen Namen Geschichten von Menschen erzählten, die einst hier gelebt hatten. Sie durchschritt die Gräberreihen und strich mit den Händen über das hohe Gras, das am Rand des Weges und auf so
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