Das Pestkind: Roman (German Edition)
Die Leute sind froh, wenn sie sich selbst durchbringen.«
»Aber ihr könnt es nicht einfach sterben lassen. Es muss doch einen Weg geben, irgendeine Möglichkeit.«
Traurig sah der Mönch zu Marianne. »Zurzeit gibt es für niemanden irgendwelche Möglichkeiten, Marianne. Wir sind froh, selbst einigermaßen durchzukommen. Die Frauen, die hier ihre Kinder ablegen, sind allein, verzweifelt und arm. Die Bettler, die an meine Tür klopfen, schicke ich schon lange wieder fort, denn ich kann ihnen nichts geben. Das Wenige, was wir haben, brauchen wir für uns.«
Marianne deutete auf ihre leere Schale.
Pater Johannes seufzte.
»Das bisschen, was du isst, Kind, hab ich schon übrig. Du bist doch unser Mündel, fast wie ein Kind des Klosters. Ich weiß noch, wie du barfuß in meiner Küche gesessen hast und deine Beinchen kaum bis auf den Boden reichten, wie ich dir das Lesen und Schreiben beibrachte. Für dich werde ich immer etwas übrig haben.«
Marianne sank zurück auf die Bank und strich dem Kind, das wieder zu greinen begonnen hatte, beruhigend über den Rücken.
»Wie tief sind wir schon gefallen, Johannes, um so grausam zu sein?«
Der alte Mönch sah sie traurig an.
»Wenn es so weitergeht, dann werden wir noch viel grausamer sein müssen.«
Kopfschüttelnd griff der Mönch nach der Suppenkelle, Marianne hielt ihn zurück.
»Ich habe jetzt doch keinen Hunger mehr, Johannes. Darf ich das Kind eine Weile behalten?«
Verwundert sah Johannes Marianne an.
»Natürlich darfst du das.«
Schweigend verließ Marianne die Küche, lief durch das leere Dormitorium und den Kreuzgang bis in den Rosengarten, ihren Lieblingsplatz im Kloster.
Sie setzte sich auf eine Bank, und der berauschende Duft der Blumen hüllte sie ein. Der kleine Innenhof war von Mauern umgeben, an denen verschiedenfarbene Kletterrosen hinaufrankten. Unterschiedliche Rosensorten blühten in runden Beeten mit dem Lavendel um die Wette. Bienen summten, und Schmetterlinge tanzten durch die Luft. Hinter diesen Mauern fühlte sich Marianne sicher, und all die üblen Gedanken, die Müdigkeit und der Schmerz schienen zu verschwinden. Auf dieser Bank hatte sie Zuflucht gesucht, wenn Hedwig ungerecht zu ihr war oder sie sich einsam und verloren fühlte. Umgeben von den Blumen und der Stille war sie ruhig geworden – und wurde es auch jetzt wieder. Sie spürte, wie sich ihre Gedanken ordneten.
Traurig schaute sie auf das Kind in ihrem Arm, das sie mit seinen blauen Augen ansah. Sein Mund war geschlossen, und auf seinen Wangen schimmerten noch die letzten Tränen. Marianne hatte den Eindruck, als würde es lächeln.
»Ich weiß noch nicht einmal, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist. Ich meine, das ist doch wichtig, wenn du einen Namen bekommen sollst.« Sie lächelte das Kind liebevoll an. »Pater Johannes war wohl zu beschäftigt, um nachzusehen.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. Was sollte er auch nachsehen. In einigen Stunden war das Kind gewiss tot. Es würde einschlafen und ganz leise zum lieben Gott hinaufwandern, ein Engel werden wie ihr Bruder.
»Du wirst sicher ein hübscher Engel sein.« Sie strich dem Kind zärtlich über die Wange.
»Wer wird ein hübscher Engel?«
Marianne zuckte zusammen und wandte sich um. Pater Franz stand unter dem alten Rosenbogen, der den Eingang des Gartens überspannte, und lächelte Marianne an.
So lächelte er immer, sanft und liebevoll. Marianne schätzte die besondere Aura, die den Mönch umgab. Seinen Hinterkopf zierte ein Haarkranz, er war schmal gebaut und versank fast ein wenig in seiner braunen Mönchskutte, die er an der Taille mit einem beigefarbenen Strick zusammenhielt.
»Guten Morgen, Pater Franz.« Sie deutete auf das Kind in ihrem Arm.
»Es wird bald ein Engel sein. Ein hübscher Engel, ganz bestimmt.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Stimme brach. Der Abt trat näher, setzte sich neben sie auf die Bank und blickte in das kleine Gesicht.
»Gottes Wege sind unergründlich, gewiss wird Franziska es gut bei ihm haben.«
Erstaunt sah Marianne ihn an.
»Aber …«
Er lächelte.
»Wir haben sie gleich, nachdem wir sie gefunden haben, getauft. Ich finde, der Name Franziska passt zu ihr.«
Prüfend blickte Marianne in das Antlitz des Kindes. Ein Mädchen also.
»Ja, das finde ich auch. Franziska ist wunderbar.«
Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander. Langsam schlich sich die Morgensonne in den Innenhof, tauchte die ersten Rosen in ihr warmes Licht und ließ den
Weitere Kostenlose Bücher