Das Pestkind: Roman (German Edition)
als Hedwig sie stundenlang hier oben eingesperrt hatte und sie Sommer wie Winter ohne Decke, allein und von Angst erfüllt, in der Finsternis lag. Eigentlich hatte sie sich geschworen, diesen Dachboden niemals wieder zu betreten, aber für Theo war hier das beste Versteck im Haus. Niemals würde Hedwig darauf kommen, irgendjemanden hier oben zu vermuten. Anderl und sie würden ihn mit Kerzen und Essen versorgen und abends, wenn die Brauerei geschlossen war, konnte er sich auf dem Hof die Beine vertreten und frische Luft schnappen.
Vorsichtig betrat Theo die Kammer. Anderl legte die Decke auf eine der Matratzen, und Marianne stellte die Kerze auf den Boden. Eine aufgescheuchte Ratte huschte an ihr vorbei. Fürsorglich breitete sie die Decke auf dem Lager aus und versuchte, sich abzulenken.
»Tut mir leid, Theo, wir haben leider keine bessere Unterbringung für dich, denn wenn dich Hedwig findet, dann wird sie wütend. In der letzten Zeit ist es sowieso schwer mit der Brauerei, und sie ist sehr launisch.«
Beruhigend legte der alte Mann seine Hand auf ihre Schulter.
»Ist schon gut, Mädchen. Ihr macht euch genug Mühe mit einem alten Mann wie mir.«
»Ich bring dir nachher auch etwas zu essen«, mischte sich Anderl ein. »Und heute Abend, wenn alle schlafen, dann komme ich, und wir können nach draußen gehen.«
»Ich muss runter, bald kommen die ersten Gäste, und in der Küche gibt es noch einiges zu tun. Seit Irmgard tot ist, hängt alles an mir. Bestimmt wird Hedwig schon nach mir suchen. Du musst auch mitkommen, Anderl, denn der Fußboden in der Gaststube muss noch gescheuert werden.« Anderl schaute schweigend von Marianne zu Theo, der im Licht der Kerze blass und erschöpft aussah. Zum ersten Mal fiel Marianne auf, wie eingefallen seine Wangen waren, tiefe Falten lagen um seinen Mund, und seine Augen glänzten nicht wie sonst. Die Überschwemmung seiner Hütte setzte ihm anscheinend mehr zu, als sie angenommen hatte.
»Wenn Anderl mit dem Schrubben des Bodens fertig ist, schicke ich ihn gleich wieder zu dir, damit du dich nicht einsam fühlst.« Ihr Blick wanderte in die dunklen Ecken. »Denn das hier ist kein Ort, um allein zu sein.«
Einige Zeit später saß Marianne in der Küche und rupfte das letzte Huhn der Brauerei. Suppe sollte sie daraus machen, doch sie hatte keine Ahnung davon, denn Irmgard hatte sich bisher immer darum gekümmert. Die alte Magd hatte es verstanden, eine perfekte Hühnersuppe zu machen, die würzig und deftig schmeckte und von allen Gästen gelobt wurde.
Jetzt fiel auch diese Aufgabe Marianne zu. Über einen Ersatz für Irmgard hatte Hedwig nicht eine Minute nachgedacht. Brot backen, kochen, Wäsche waschen, Geschirr reinigen, die Hühner füttern, in der Gaststube für Ordnung sorgen und beim Bedienen aushelfen – ihre neue Aufgabenliste war lang und wurde jeden Tag länger. Zeit für sich hatte Marianne kaum noch.
Auf dem Herd stand bereits der große Suppentopf, in dem kochendes Wasser sprudelte. Fragend blickte sie einige Minuten auf den nackten Vogel und die Federn auf dem Boden. Musste man ein Huhn für die Suppe zerteilen, oder kam es ganz in den Topf? Sie entschied sich für die zweite Möglichkeit. Neben ihr auf dem Tisch wartete der Brotteig darauf, verarbeitet zu werden. Sollte es heute Abend frisch gebackenes Brot zur Suppe geben, dann musste sie sich jetzt beeilen. Schwungvoll warf sie das Huhn in den Topf und blickte sich suchend nach dem Besen um, der nicht an seinem üblichen Platz neben dem Ofen stand. In diesem Moment wurde die Küchentür aufgerissen, und Hedwig stampfte in den Raum. Sie trug ein dunkelblaues, weit ausgeschnittenes Leinenkleid und hatte sich in ein enges Korsett geschnürt.
Kritisch musterte Hedwig erst Marianne und dann die Küche.
»Guter Gott, was hast du angerichtet?«
Marianne blickte sich um. Die Hühnerfedern tanzten in der Zugluft der geöffneten Tür über den Boden, auf dem Tisch lag der halbfertige Brotteig, und in der Ecke neben dem Hofausgang stapelten sich die Gemüseabfälle des heutigen und gestrigen Tages, die sie noch nicht fortgebracht hatte.
Zischend kochte die Hühnersuppe über. Hedwig eilte zum Ofen, zog den Topf von der heißen Platte und starrte verdutzt hinein.
»Aber das Huhn ist ja gar nicht zerteilt, sogar der Kopf ist noch dran.«
Wütend wandte sie sich um. Marianne wich zurück und hielt sich schützend die Hand vor das Gesicht. Hedwigs Schläge trafen sie hart am Handgelenk, auf den Ohren und
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