Das Pestkind: Roman (German Edition)
beschützen.«
Er ließ sie stehen und tauchte in der Menge unter.
Wenig später lief Marianne durchs Inntor, wandte sich zum Fluss und suchte das helle Grün der Büsche und Weiden ab. Wenn Anderl irgendwo zu finden war, dann hier draußen beim alten Theo.
Theos Hütte lag nicht weit vor der Stadt, versteckt zwischen Weidenbäumen, unweit vom Ufer. Im Winter, wenn die Bäume kahl waren, konnte man den armseligen Bretterverschlag bereits vom Inntor aus erkennen.
Marianne mochte den alten Mann mit den weißen Haaren, der hohen Stirn und den warmen braunen Augen. Er hatte Probleme mit dem Laufen und zog ein Bein nach, aber niemand kannte den Grund dafür. Theo war nicht sehr gesprächig, manchmal sogar beklemmend schweigsam. Vielleicht war das ja die Erklärung dafür, weshalb Anderl den Alten so gernhatte. Marianne hatte das Gefühl, als würden sich die beiden ohne Worte verstehen, und manchmal war es ihr fast unheimlich, wie sie sich nur mit Blicken verständigten.
Kurz vor dem Fluss verließ sie die Straße und betrat den winzigen Trampelpfad, der zu der kleinen Hütte führte, doch schnell wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass es hier keinen Trampelpfad mehr gab. Überall zwischen den Weiden und Büschen stand grünliches Wasser, das ihr bis zu den Knien reichte und in die Schuhe lief. Missmutig hob sie ihr feuchtes Kleid an und ging weiter. Ihre Finger waren steif vor Kälte, und sie zitterte am ganzen Leib. Wenn sie nicht bald aus den nassen Sachen kam, würde sie sich den Tod holen, dachte sie, und dann brauchte sich auch niemand mehr Gedanken darüber zu machen, ob sie es mit dem Teufel hätte. Nach einer Weile blieb sie stehen und blickte sich um. Der Weg zur Hütte war ihr noch nie so lang vorgekommen. Eigentlich waren es nur wenige Minuten, aber jetzt, umgeben von grünem Wasser, wusste sie plötzlich nicht mehr, wohin. Normalerweise hätte sie die Hütte längst sehen müssen.
Plötzlich hörte sie hinter sich Anderls Stimme.
»Hier ist doch jemand, Theo!«
Erleichtert sah Marianne ihren Stiefbruder an. Anderl war vollkommen durchnässt, sein Haar klebte ihm an der Stirn, aber seine Wangen waren gerötet, und er zitterte nicht. Freudig rannte er auf Marianne zu und umarmte sie, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen.
»Grüß Gott, Marianne«, begrüßte er sie, als er sich wieder von ihr gelöst hatte. Marianne lächelte ihn an und genoss seine kindlich strahlenden Augen und die Freude, die er empfand.
Theo kam hinter einem Weidenbaum hervor.
»Grüß Gott, Marianne. Mädchen, was treibt dich denn hier raus? Bist ja ganz nass, du wirst dir den Tod holen.«
Anderl musterte Marianne besorgt und begann, ihre Schultern zu reiben. Marianne hielt seine Hände fest und sah ihn ernst an.
»Wir müssen nach Hause, Anderl. Mutter hat mich geschickt. Du weißt doch, wie sie ist.«
Anderl sah seine Stiefschwester nachdenklich an. Nicht immer hatte Marianne die Geduld für ihn, die er brauchte, und jetzt, in der Kälte und Nässe, hatte sie keine Lust, sich zu wiederholen.
Doch dann nickte Anderl, lief zu Theo und griff nach seiner Hand.
»Theo kommt auch mit.«
Entgeistert sah Marianne von einem zum andern.
»Aber, das geht doch nicht, Anderl …«
Er unterbrach sie, redete einfach weiter:
»Sein Haus ist voller Wasser, er weiß nicht, wohin, und bei uns ist es trocken und warm.«
Marianne atmete tief durch.
»Ist schon gut, Mädchen.« Theo verstand, was Marianne sagen wollte.
»Ich will keinen Ärger machen.«
Er drehte sich um und ging. Anderl sah Marianne flehend an. Seufzend gab sie nach. Irgendetwas würde ihr schon einfallen.
»Warte, Theo«, sagte sie.
Der alte Mann blieb stehen.
»Wir werden schon eine Lösung finden. Anderl hat recht: Hier kannst du unmöglich bleiben.«
Auf dem Rückweg schwiegen sie. Große Pfützen standen auf der Straße und würden diese bald unbenutzbar machen. Anderl lief strahlend neben Theo her und summte ein Lied, das sie in Kindertagen immer gesungen hatten. Bei seinem Anblick musste Marianne trotz der Widrigkeiten des Wetters lächeln. Er war so leicht zu begeistern. Es tat gut, ihm eine Freude zu machen.
Ein großes Fuhrwerk fuhr an ihnen vorüber. Es wurde von vier mächtigen Pferden gezogen, die mit ihren triefend nassen Mähnen traurig aussahen. Zwei Männer saßen auf dem Kutschbock und musterten die kleine Gruppe grimmig. Von ihren breitkrempigen Hüten tropfte das Wasser, und ihre Jacken und Hemden waren
Weitere Kostenlose Bücher