Das Pestkind: Roman (German Edition)
der Stirn.
»Nichts kann man dir anvertrauen, du Ausgeburt der Hölle«, brüllte die Witwe und prügelte weiter. Marianne sank in die Ecke neben die Gemüseabfälle. Tränen der Verzweiflung und Wut schossen ihr in die Augen.
Schimpfend drehte sich ihre Ziehmutter um.
»Die Gäste, was soll ich ihnen nur sagen? Es ist mein Ruin, das Ende. Hörst du mich? Es ist mein Ende! Du bist schuld daran, wenn wir bald auf der Straße stehen. Hätte ich dich doch niemals zu mir genommen. Ich hätte es besser wissen sollen, den Fluch des Teufels habe ich auf mich geladen.«
Marianne schlug das Herz bis zum Hals, ihre Wangen glühten. Morgen würde man sie erschlagen auf der Straße finden, das Mädchen, das es mit dem Teufel hatte.
Hedwig hatte sich eine der Bratpfannen gegriffen, doch genau in dem Moment, als sie zuschlagen wollte, hielt jemand sie am Handgelenk fest.
»Das würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht tun, gnädige Frau.« Theos sanfte Stimme durchbrach die Anspannung. Hedwig sah den alten Mann verwundert an. Anderl betrat hinter ihm die Küche, lief sofort zu Marianne und stellte sich schützend vor sie.
»Was will der Alte hier, Anderl? Wo kommt er her?«
Marianne sah Anderl tief in die Augen. Doch er verstand sie nicht.
Theo ließ Hedwigs Arm los. Jetzt, wo es um ihn ging, zog er sich zurück, denn er wollte keinen Ärger machen.
»Du sollst Marianne nicht schlagen.« Anderl funkelte seine Mutter wütend an.
»Ich habe dich gefragt, was der alte Theo hier will, Anderl?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Er wohnt bei uns«, antwortete er prompt. Marianne schlug die Hände vor das Gesicht.
»Was tut er? Ja seid ihr beiden denn verrückt geworden? Sind wir jetzt schon ein Armenhaus für Bettler und Gesindel?«
»Er ist mein Freund«, verteidigte sich Anderl.
»Es ist mir egal, was er ist!« Hedwig schlug ihrem Sohn auf den Kopf.
»Was habe ich nur getan, dass mich Gott mit einem solchen Kind straft?«
Theo hatte sich gerade Gedanken darüber gemacht, ob es nicht besser wäre, einfach zu verschwinden. Aber diese Anschuldigungen gegen Anderl wollte er nicht hinnehmen, denn der Junge mochte anders sein, vielleicht ein wenig einfältig, aber er war herzensgut und auf seine Art durchaus klug.
»So lasst ihn doch in Ruhe. Er hat es nur gut gemeint. Ich gehe ja schon, draußen an der Luft ist es mir sowieso lieber.«
Marianne war wieder aufgestanden. Sie kochte innerlich vor Wut. »Hör auf, Mutter!«, sagte sie und erschrak selbst vor ihrer festen Stimme. »Hör endlich auf, Anderl zu beleidigen! Er ist nicht dumm, hörst du! Siehst du nicht, wie sehr er dich liebt? Du bist seine Mutter, warum kannst du ihn nicht akzeptieren, wie er ist?«
Hedwig sah Marianne verwundert an. So hatte sie noch nie mit ihr gesprochen. Anderl und Theo schwiegen. Marianne stand aufrecht in der Mitte des Raumes und wirkte plötzlich wie eine erwachsene Frau. Es sollte ein Ende haben, endlich musste Schluss sein mit Hedwigs Gewaltausbrüchen, auf welche Art auch immer.
Hedwig reagierte anders, als alle dachten. Sie musterte Marianne eine Weile stumm und zeigte dann zur Tür.
»Raus«, sagte sie leise, »verschwinde. Ich will dich hier nie wieder sehen, hörst du!«
Marianne wurde unsicher. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet.
»Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!«, brüllte Hedwig mit bebender Stimme.
Marianne warf Anderl einen langen Blick zu, dann drehte sie sich um, öffnete die Tür und trat in den kalten Regen.
*
Das schmiedeeiserne Tor quietschte in den Angeln, als Marianne es öffnete. Im dämmrigen Licht des schwindenden Tages lag das freie Feld vor ihr. Sie kannte all die kleinen Tore, die aus der Stadt hinausführten, die Schleichwege derer, die etwas zu verbergen hatten und deshalb die Stadttore mieden. Ihr Kleid hing schwer an ihrem Körper, und der Regen rann ihren Nacken hinunter. Fröstelnd schlang sie die Arme um sich, blieb stehen, sank in die Hocke und begann bitterlich zu weinen. Niemand wollte oder liebte sie. Sie war das Pestkind und brachte Unglück über sich und andere, und auch Anderl hatte sie kein Glück gebracht. Vielleicht würde es ihm heute sogar bessergehen, wenn sie wie die kleine Franziska gestorben wäre, doch trotzdem war die Brauerei, die sie so abgrundtief verabscheute, ihr Zuhause. Wo sollte sie denn sonst hin? Plötzlich fiel ihr der kleine, goldene Engel ein, der in der Truhe lag. Wenn sie wenigstens ihn bei sich gehabt hätte, den Schutzengel, der auf sie
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