Das Pestkind: Roman (German Edition)
aufpasste. Sollte sie doch hier draußen sterben, erfrieren im kalten Regen, dann wäre sie endlich tot und bei Gott. Doch dann drang plötzlich Theos Stimme an ihr Ohr.
»Mädchen, was machst du denn«, hörte sie ihn sagen und fühlte seine Hände auf ihren Schultern. »Du wirst dir hier draußen den Tod holen.«
Marianne versuchte, ihn abzuschütteln.
»Das ist mir egal. Alle wünschen sich, dass ich sterbe, also tue ich ihnen den Gefallen. Geh weg, Theo.«
Doch Theo blieb hartnäckig, ging vor ihr in die Hocke und beugte sich so nah zu ihr vor, dass sie seinen schlechten Atem riechen konnte.
»Das ist Unsinn, was du da redest. Gott hat dich gerettet und auf Erden gelassen. Du bist ein Wunder und etwas Besonderes. Sollen die Leute doch reden, ich weiß es besser und Anderl auch. Komm, Kindchen, ich helfe dir auf und bringe dich ins Kloster. Pater Franz wird sich um dich kümmern.« Er zog Marianne hoch. Sie wehrte sich nicht, denn Theo hatte recht. Anderl brauchte sie und würde verzweifeln, wenn sie nicht mehr da wäre. Behutsam führte der alte Mann Marianne über das matschige Feld. Kurz vor dem Kloster blieb Theo stehen. Marianne sah ihn verwundert an.
»Ab hier gehst du besser allein weiter, Mädchen.«
»Aber …«
Er ließ Marianne nicht ausreden.
»Kein Aber. Ich komme schon zurecht, mach dir keine Sorgen. Das Kloster ist genauso wenig ein Platz für mich wie der Dachboden der Brauerei.«
»Ist dort draußen jemand?«
Ein Mönch trat aus der Tür. Theo schob Marianne auf die Straße. Der Mönch erkannte Marianne sofort.
»Guter Gott, aber das ist ja unsere Marianne. Mädchen, was führt dich denn an diesem grauen Tag hierher?« Eilig zog er sie durch die Tür ins Kloster, während Theo über die Felder verschwand.
Wenig später schob Pater Johannes die am ganzen Leib zitternde Marianne in eine der Gästekammern. Auf der Fensterbank stand eine Kerze und verbreitete warmes Licht. Ein einfach gezimmertes Bett aus Fichtenholz und ein kleiner Waschtisch waren die einzigen Einrichtungsgegenstände. Kahl und trostlos wirkten die weiß getünchten Wände, an denen ein schlichtes Holzkreuz hing. Marianne blickte sich um und zog die Nase hoch. Was sollte nur werden? Konnte Pater Franz ihr jetzt noch helfen? Er hatte ihr immer geholfen und oft den Streit aus der Welt geschafft, doch irgendetwas war heute anders gewesen.
Pater Johannes legte eine Mönchskutte aufs Bett und trockene Leinentücher auf den Waschtisch, danach strich er Marianne aufmunternd über die Wange.
»Jetzt ziehst du dich erst einmal um und beruhigst dich. Wenn du aus den nassen Kleidern draußen bist, sieht die Welt bestimmt gleich wieder besser aus. Es wird schon nicht so schlimm sein. Ich gehe und informiere Pater Franz über dein Kommen, gewiss wird er eine Lösung finden.«
Marianne nickte und versuchte, Johannes zuliebe zu lächeln.
»Na siehst du«, erwiderte der Mönch, »alles halb so schlimm.« Als er fort war, sank Marianne aufs Bett und atmete tief durch. Wie sollte sie Pater Franz erklären, was sie fühlte, ihm klarmachen, dass sie nicht wieder zu Hedwig zurückkonnte. Anderl hatte sie so erschrocken angesehen – anders als sonst. Als hätte er verstanden. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Wenn sie an ihn dachte, tat ihr alles weh. Sie konnte ihn dort nicht allein lassen, konnte ihn aber auch nicht in ein anderes Leben mitnehmen, von dem sie selbst nicht wusste, wie es aussehen würde. Mit zitternden Händen öffnete sie die Schnüre ihres Kleides, zog es aus und warf es auf den Boden. Pater Johannes würde es nachher in der Küche über den Ofen hängen, dann war es morgen wieder trocken und zum ersten Mal seit Tagen nicht klamm und kalt.
Sie schlüpfte in die Mönchskutte, versank regelrecht darin, und der rauhe Stoff kratzte auf ihrer Haut.
Erst jetzt bemerkte sie ihre Müdigkeit. Die tiefe Erschöpfung, die sie seit Tagen mit sich herumtrug, legte sich wie Blei auf ihre Augenlider. Nur eine Minute ausruhen, dachte sie, sank aufs Bett, kuschelte sich unter die wollene Decke und schlief auf der Stelle ein.
*
Nachdem Marianne fortgegangen war, war Anderl in seine Kammer geflohen und hatte sich eingeschlossen, denn niemand sollte seine Tränen sehen. Warum war Mutter immer so gemein zu ihnen? Keiner hatte etwas Schlimmes getan. Theo war sein Freund, dem Marianne und er doch nur helfen wollten. Marianne – er schloss die Augen. Der Schmerz über ihren Verlust überwältigte ihn. Selbst er hatte eben
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