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Das Pestkind: Roman (German Edition)

Das Pestkind: Roman (German Edition)

Titel: Das Pestkind: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Steyer
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Seuche entkamen, aber in jedem Geschwätz steckte bekanntlich auch ein Fünkchen Wahrheit. Pater Franz sah ihn abwartend an, und Marianne blickte, den Tränen nahe, zu Boden. Anderl war unschuldig, niemals hatte er seine Mutter erschlagen. Er war gar nicht fähig dazu, anderen Gewalt anzutun. Warum verstand das niemand? August Stanzinger war es. Er und dieser andere, von dem sie den Namen nicht kannte, hatten Hedwig auf dem Gewissen. Nicht der gutmütige Mensch, der gewiss voller Angst irgendwo in diesem Haus saß und nicht wusste, wie ihm geschah.
    Pater Franz sah den Wachmann abwartend an.
    »Also gut«, lenkte Karl ein, »aber nicht lange. Wenn das der Büttel herausfindet, dann bekomme ich Ärger.«
    Marianne atmete erleichtert auf.
    Der dickliche Mann kam hinter seinem Pult hervor, löste einen Schlüsselbund von seinem Gürtel und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Es ging durch eine Hintertür und eine steile Stiege nach unten. Karl hielt eine kleine Laterne in der Hand.
    »Mörder landen bei uns immer hier unten im Verlies. Das ist sicherer. Einmal ist uns einer entlaufen und hat noch drei andere umgebracht. Seitdem sind wir vorsichtig.«
    Marianne fröstelte. Es war eiskalt hier unten. Modriger, feuchter Gestank nach Exkrementen drang ihr entgegen und verschlug ihr den Atem. Am Ende des finsteren Flurs öffnete der Wachmann eine Tür und zeigte in den Raum.
    »Ihr habt zehn Minuten.«
    Pater Franz griff wortlos nach der Laterne, die ihm Karl hinhielt, und bedeutete Marianne, ihm zu folgen.
    Die Kammer war eng und ohne Fenster. Der Gestank, der im Flur noch auszuhalten gewesen war, wurde hier unerträglich. Marianne versuchte, ihre aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, und trat ein. Anderl lag zusammengekauert auf einem Strohlager.
    »Marianne«, flüsterte er, als er seine Stiefschwester im Licht der Laterne erkannte. Tränen der Erleichterung traten in seine Augen, und er streckte wie ein kleines Kind seine Arme nach ihr aus. Marianne sank vor ihm auf den Boden und drückte ihn fest an sich. Laut schluchzend klammerte er sich wie ein Ertrinkender an sie.
    Sie streichelte ihm beruhigend über den Rücken, während Pater Franz taktvoll auf den Flur hinaustrat und den Wärter davon abhielt, die beiden zu stören.
    »Jetzt wird doch alles gut«, sagte sie und schämte sich für diese Lüge. Nichts war gut und würde es auch niemals wieder werden. Sie würde ihn enttäuschen müssen. Wut darüber, ihn in diesem Zustand sehen zu müssen, stieg in ihr auf, und sie war auch wütend auf sich selbst. Wenn sie damals Pater Franz von dem Gespräch erzählt hätte, dann wäre es vielleicht niemals so weit gekommen.
    »Ich bin ja jetzt bei dir.« Sie strich ihm über den Kopf und fühlte seine weichen Haare zwischen ihren Fingern, seine Tränen auf ihrer Haut.
    »Ich habe Mutter nicht erschlagen«, sagte Anderl plötzlich und richtete sich auf. Marianne schaute ihn überrascht an. Im Licht der Laterne sah er so anders aus – nicht mehr wie der kleine einfältige Junge, sondern wie ein richtiger junger Mann.
    »Ich weiß.« Sie blickte zur Tür. Pater Franz trat wieder näher.
    Verzweifelt sah Anderl sie an und wich ängstlich vor dem Mönch zurück, als hätte ein Fremder den Raum betreten. »Er wird dich wieder mitnehmen, oder? Du wirst wieder gehen und mich hierlassen, in der Dunkelheit.« Er griff nach Mariannes Hand.
    »Ich habe Angst, die Geräusche, die Stille, alles erschreckt mich. Bitte, nimm mich mit, Marianne! Du kannst mich nicht allein lassen! Das darfst du nicht!«
    Sein Griff wurde fester. Tief gruben sich seine Fingernägel in Mariannes Haut. Hilflos sah sie ihn an.
    »Es tut mir leid«, flüsterte sie, Tränen in den Augen. »Aber ich helfe dir. Ich verspreche es. Bald wirst du wieder frei sein. Wir werden dafür sorgen. Ich komme zurück, und dann nehme ich dich mit, versprochen.«
    Sie sah ihm in die Augen. »Hörst du, Anderl. Ich verspreche es dir. Wenn ich wiederkomme, ist alles gut.«
    Karl, der nun endgültig genug von dieser Gefühlsduselei hatte, betrat den Raum und zog Marianne mit Gewalt von Anderl weg. Der Griff des Jungen löste sich, und er sank in sich zusammen.
    »Lasst mich los! Bitte, nur noch einen Moment, nur noch ein wenig! Er muss es doch verstehen. Ich will doch nur wissen, ob er es auch verstanden hat. Ich komme wieder, Anderl. Ich verspreche es dir! Ich lasse dich nicht allein! Das nächste Mal nehme ich dich mit.«
    Karl zog Marianne auf den Flur und schloss hinter ihr die

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