Das Pestkind: Roman (German Edition)
im Gefängnis saß, musste man ihm nicht erklären. Aber wie er ihm helfen sollte, wusste er nicht, denn er konnte sich nicht gegen den Büttel stellen.
Marianne war es, die ihm am meisten Kummer machte. Sie war jetzt heimatlos. Eine Waise in einer Stadt, in der sie alle hassten und mieden wie der Teufel das Weihwasser. Wie hatte es nur so weit kommen können? Warum verabscheuten die Menschen das Mädchen? Ihr Überleben war doch ein Wunder Gottes gewesen. Er würde sie fortschicken müssen. Wohin, das wusste er selbst noch nicht so genau, doch hier konnte sie unmöglich bleiben. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er würde sie verlieren, musste sie ziehen lassen, irgendwohin, wo er sie nicht mehr beschützen konnte.
Er trat vom Fenster weg und setzte sich aufs Bett. Es regnete stärker. Fröstelnd legte er sich hin, schlüpfte unter seine Decke und blies die Kerze aus.
*
Marianne lief neben Pater Franz über den Salzstadel und versuchte, alles um sich herum auszublenden. Die Geschäftigkeit war hier trotz des Überfalls der Schweden bereits wieder zurückgekehrt, denn der Salzstadel war der Pulsschlag der Stadt. Fuhrwerke fuhren an ihnen vorbei, Schifffahrtsburschen riefen durcheinander, Salzscheiben wurden hin und her getragen und in die großen Lagerhäuser gebracht, in denen laut die Preise berechnet wurden. Huren, die sich unweit des Stadels angesiedelt hatten, hielten zwischen den Männern nach Kundschaft Ausschau. Selbst sie rümpften ihre nicht allzu feinen Nasen, als Marianne an ihnen vorbeilief. Manch eine spuckte sogar hinter ihr auf den Boden.
Pater Franz versuchte, die Frauen zu ignorieren, legte schützend den Arm um Marianne und beobachtete das Geschehen um sich herum wohlwollend. Stadt und Bürger waren stolz darauf, den Scheibenpfennig erheben zu können und das Abschüttrecht innezuhaben. Allerdings mussten von diesen Einnahmen das Marktpflaster, die Salzstadel und Brücken unterhalten werden, weshalb wegen der vielfachen Überschwemmungen, Brände und Heimsuchungen der letzten Jahre die Gewinne geschrumpft waren.
»Glaubt Ihr, dass wir überhaupt zu ihm dürfen?«, fragte Marianne und riss den Abt aus seinen Gedanken.
»Warum sollten sie uns denn nicht vorlassen? Immerhin bist du seine Schwester.«
»Er ist aber nicht mein richtiger Bruder.«
Pater Franz winkte ab.
»Keiner wird es wagen, einem Mönch den Zutritt zu verweigern.«
Er lächelte Marianne aufmunternd zu.
»Wir schaffen das schon.«
Er munterte sie um seiner selbst willen auf, denn nichts würde mehr gut werden. All sein Grübeln hatte ihn immer wieder zu demselben niederschmetternden Ergebnis geführt. Er würde Anderl nicht helfen können, und Marianne musste fort aus Rosenheim, irgendwohin, wo sie vielleicht noch eine Zukunft hatte, denn im Kloster konnte sie auf Dauer nicht bleiben. Noch heute würde er einen Brief an ein Kloster der Zisterzienserinnen in der Nähe von Salzburg schreiben. Vielleicht war es ja möglich, das Mädchen dort unterzubringen.
Sie erreichten das Ende des Salzstadels, wo in einem unscheinbaren und wenig ansehnlichen Gebäude das Stadtgefängnis untergebracht war. Der Putz bröckelte von den Wänden, und die vergitterten Fenster hatten keine Scheiben. Marianne betrat hinter Pater Franz die enge Wachstube. Es roch nach Bier, Schweiß und gebratenem Fleisch, und nur wenig Licht drang durch das einzige, winzige Fenster in den Raum.
Pater Franz begrüßte Karl Gansbichler, den Wachmann. Der gedrungene rotwangige Mann, der dem Anschein nach nicht mehr ganz nüchtern war, saß an einem klapprigen Schreibpult. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er Marianne, während der Mönch ihr Anliegen vortrug.
»Aber die Teufelin soll ich nicht zu ihm lassen, das hat der Büttel befohlen.«
Marianne sah den Wachmann erschrocken an, wich einige Schritte zurück und trat in den Flur.
Pater Franz sog hörbar die Luft ein.
»Mein Sohn, zügele deine Worte. Du solltest noch heute Abend in die Kirche gehen und deine Sünden beichten. Marianne Leitner ist keine Teufelin. Schäme dich, solchen Gerüchten und dem Geschwätz der Leute Glauben zu schenken. Sie ist die einzige Familie, die der Knabe noch hat.«
Karl kratzte sich am Kopf und musterte Marianne nochmals von der Seite. Er kannte sie nur vom Sehen, und weshalb die Leute in ihr den Teufel oder das Böse sahen, hatte er nie ganz verstanden. Das Mädel hatte die Pest überlebt. Damit war sie nicht allein, denn es gab immer wieder Menschen, die der
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