Das Pestkind: Roman (German Edition)
wusste gar nicht, wie ihm geschah, während ihm die Männer die Hände auf dem Rücken fesselten.
»Ihr habt sie getötet!« Marianne zeigte auf den blonden Mann. Erschrocken starrte Josef sie an und wich sofort einige Schritte zurück.
»Ich weiß es genau! Alles habe ich mit angehört, damals in der Nacht im Hof. Auf die Brauerei habt Ihr es abgesehen, nicht wahr? Hedwig hat Euch doch nur im Weg gestanden!«
Alle starrten Marianne entgeistert an.
»Was fällt dir ein!«, erwiderte der Büttel. »Das ist eine unerhörte Anschuldigung! An den Pranger sollte ich dich Teufelsbalg stellen! Du Ausgeburt der Hölle, kleine verkommene Hexe, wagst es, einen ehrenwerten Herrn zu beschuldigen!«
Sie wich erschrocken zurück.
Anderl sah sie an und begann etwas zu faseln, was niemand verstand. Tränen traten in seine Augen, und er machte einige Schritte auf Marianne zu, doch die Männer zogen ihn rüde zur Seite.
»Führt den Burschen ab«, befahl der Stadtbüttel. Die beiden Männer gehorchten und stießen Anderl grob aus dem Raum. Verzweifelt begann sich der Junge zu wehren. »Marianne!«, rief er. »Marianne! Bitte, Marianne!«
Marianne wollte ihnen hinterherlaufen, doch Margit, die aus ihrer Erstarrung aufgewacht war, hielt sie zurück.
»Bleib hier, Marianne, es hat doch keinen Sinn.«
Grinsend blickte der Stadtbüttel von Margit zu Josef Miltstetter, der seine Selbstsicherheit wiedererlangt hatte und nickte.
»Und ihr beide verlasst jetzt ebenfalls auf der Stelle mein Haus.«
Wenig später stand Marianne allein auf dem Inneren Markt im kalten Regen, den sie kaum fühlte. Margit hatte sich mit knappen Worten von ihr verabschiedet und war irgendwohin verschwunden.
Das eben Geschehene war unfassbar. Anderls hilfloser Blick und die Art, wie er sie angesehen hatte, brachten sie um den Verstand. Erst allmählich begriff sie die Tragweite dessen, was geschehen war. Anderl war des Mordes angeklagt, was seinen Tod bedeutete. Ihre Erstarrung wich Verzweiflung, und sie begann, laut zu schluchzen. Sie konnte es nicht aufhalten, es brach einfach aus ihr heraus. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.
Nach einer Weile blieben zwei kleine Mädchen neugierig vor ihr stehen. Eine der beiden stupste sie vorsichtig an.
»Warum weinst du denn?«, fragte es.
Marianne sah auf und blickte in zwei unschuldige blaue Augen, in einem Gesicht voller Sommersprossen und eingerahmt von blonden Zöpfen. Beschämt wischte sie sich die Tränen weg.
»Es ist nichts. Ist schon gut.«
Das Mädchen sah kurz zu seiner Freundin, die ein wenig größer war und rote Locken hatte.
»Gell, Bärbel, du hast gestern auch geweint.«
Die Rothaarige nickte.
»Der Vater ist tot.« Sie deutete auf einen der Karren.
»Gestern haben sie ihn abgeholt.«
Marianne stand auf und wischte sich zitternd über den nassen Rock. Jetzt schämte sie sich fast ein wenig für ihre Tränen.
»Also, warum hast du denn geweint? Ist bei dir auch einer tot?«
Die Kleine sah sie abwartend an.
Marianne wusste nicht, was sie antworten sollte. In den Augen des Mädchens lag auf einmal ein besonderer Glanz, als würde sie sich an dem Leid der anderen erfreuen.
»Nein, bei mir …«
Weiter kam sie nicht, denn genau in diesem Moment lief eine dickliche alte Frau über den Marktplatz, legte beschützend ihre Arme um beide Mädchen und warf Marianne einen misstrauischen Blick zu.
»Lass die Kinder in Ruhe«, keifte sie. »Und lass uns endlich in Frieden, du elendes Pestkind, du hast schon genug Unglück über uns gebracht.«
Die beiden Mädchen rissen erschrocken die Augen auf, in Bärbels Augen traten Tränen. Doch die andere, deren Name Marianne nicht wusste, starrte sie mit unverhohlenem Interesse an. Marianne überlegte kurz, ob sie etwas erwidern sollte, doch dann schwieg sie. Auch andere Leute auf dem Marktplatz blickten neugierig zu ihnen herüber. Sie wandte sich zum Gehen.
»Ja, geh endlich. Verschwinde! Niemand will dich hier haben!«, rief die Alte boshaft, während Marianne mit immer schneller werdenden Schritten auf das Münchener Tor zuhielt und aufs freie Feld hinauslief, wo ein unangenehmer Wind sie erzittern ließ. Sie schlang ihre Arme um den Körper und eilte weiter. Pater Franz war der Einzige, der ihr jetzt noch helfen konnte.
Mit zitternder Hand öffnete sie wenig später die Hintertür des Klosters. Pater Johannes stand, in einem großen Topf rührend, hinter dem Ofen, und der Duft von gekochtem Kohl schlug ihr entgegen. Sofort
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