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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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sehen konnte. Ihre Haare umrahmten wie ein zarter heller Heiligenschein ihren Kopf. Sogar ihre Augen waren blass und von einem weißlichen Blau wie ein Wi n terhimmel. Bei unserer ersten Begegnung erinnerte sie mich an d ie Pusteblume eines Löwenzahns, so schwerelos, dass ein Atemhauch sie forttragen kon n te. Aber das war, ehe ich sie kannte. Denn zu diesem fragilen Körper gesellte sich ein kraftvoller Geist, der zu Begeisterungsstürmen neigte und von einer tre i benden Kraft besessen war, diese auch umzusetzen. Manc h mal schien es, als hätte man die falsche Seele in diesen zierlichen Körper gesteckt, denn sie forde r te sich bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Da war irgendetwas in ihr, was nicht die von der Welt g e wünschten Unterschiede sehen konnte oder wollte, die Unterschiede zwischen schwach und stark, zw i schen Frau und Mann, Tagelöhner und Herr.
    An jenem Morgen duftete es im ganzen Garten durchdringend nach Lavendel. Farben und Pflan z muster schienen sich täglich unter ihren erfahrenen Händen zu ändern, wenn das Milchblau von Ve r gissmeinnicht dem nachtblauen Ri t tersporn wich und behutsam ins zarte Rosa der Malven überging. Unter jedes Fenster hatte sie große Gefäße mit Jasmin und Nelken gestellt, damit ihr Duft angenehm durchs Haus schwebte. Mistress Mompellion bezeichnete ihren Garten als ihr kleines Eden, was Gott meiner Ansicht nach nicht missfiel, denn hier gediehen mannigfach Blumen, weit mehr, als was normale r weise die harten Winter in dieser Berggegend übe r steht.
    An jenem Morgen fand ich sie, wie sie auf Knien abgeblühte Gänseblümchen abknipste. »Guten Mo r gen, Anna«, sagte sie, als sie mich erblickte. »Wus s test du, dass der Tee aus dieser unscheinbaren kle i nen Blüte Fieber senkend wirkt? Als Mutter tätest du gut daran, dir zusätzlich ein wenig Kräuterkunde a n zueignen. Du weißt ja nie genau, wann mögliche r weise das Wohlergehen deiner Kinder davon a b hängt.« Mistress Mompellion ließ keine Minute ve r streichen, ohne den Ve r such zu unternehmen, mich weiter zu bringen, und meist war ich eine willige Schülerin. Kaum hatte sie meinen Lernhunger en t deckt, begann sie mich genauso eifrig mit Wissen zu überhäufen, wie sie mit dem Spaten Kuhfladen in ihre Bl u menbeete grub.
    Ich war bereit, alles Gebotene anzunehmen. Schon immer hatte ich die Hochsprache geliebt. Meine größte Freude als Kind war der Kirchgang gewesen, nicht weil ich besonders fromm war, sondern weil ich mich danach sehnte, den schönen Gebetsworten zu lauschen. Lamm Gottes, Schme r zensmann, Fleisch gewordenes Wort. In der Mel o die dieser Ausdrücke verlor ich mich. Auch wenn unser damaliger Pastor, der alte Puritaner Sta n ley, die Heiligenlitaneien und die abgöttischen Fürbitten der Papisten an Maria a n prangerte, klammerte ich mich an jene Worte, die er schlecht machte: Du makellose Blume des Lebens, Du geheimnisvolle Rose, Du Morgenstern. Siehe, ich hin die Magd des Herrn, mir geschehe nach Deinem Worte. Kaum hatte ich begriffen, dass ich mir die schönsten Messeteile merken konnte, machte ich mich unverzüglich jeden Sonntag ans Werk und mehrte meine Ernte wie ein Bauer, der Garbenbündel auftürmt. Falls es mir mitunter gelang, den Augen meiner Stiefmutter zu entw i schen, trieb ich mich im Kirchhof herum und ve r suchte, die Formen der Buchstaben auf den Gra b steinen nachzuzeichnen. Wenn ich die Namen der Toten kannte, konnte ich die dort eingravierten Zeichen den Lauten zuordnen, die meiner Verm u tung nach dafür stehen mussten. Als Stift benut z te ich einen angespitzten Stecken, als Tafel einen glatten Erdfleck.
    Einmal ertappte mich mein Vater dabei, als er g e rade eine Fuhre Brennholz zum Pfarrhaus karrte. Bei seinem Anblick zuckte ich derart z u sammen, dass mir der Stecken unter der Hand zerbrach und mir e i nen Splitter in die Handfläche trieb. Josiah Bongt machte nicht viele Worte, und die meisten seiner Worte bestanden aus Flüchen. Von ihm erwartete ich mir kein Verständnis für meinen Herzenswunsch, der ihm aller Vorau s sicht nach als nutzlose Fähigkeit erscheinen mus s te. Wie schon g esagt, liebte er den Krug. Dem sol l te ich noch hinzufügen, dass der Krug diese Liebe nicht erwiderte, sondern ihn in eine übe l launige und böswillige Kreatur verwandelte. In E r wartung eines Fausthiebs duckte ich mich an jenem Tag vor ihm, denn er war ein großer Mann, dem schnell die Hand ausrutschte – und das oft aus weit nichtigerem Grund. Und doch

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