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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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nötigen Mittel und Methoden und ein gerüttelt Maß an Entschlossenheit gefunden hätten, würden wir uns aus eigenen Stücken befreien können, egal, ob wir ein Dorf voll Sünder oder ein Hort von Heiligen w ä ren.
     
    Mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst begrü ß ten wir den Mai. Mit jener Hoffnung, die sich ve r mutlich ganz natürlich am Ende eines harten Wi n ters einstellt. Mit der Angst, das mildere Wetter wü r de zu einem verstärkten Aufflackern der Krankheit führen. Behutsam hob die Jahreszeit mit ungewöhnlich b e ständigem Wetter an, als wüsste der Himmel, dass wir die plötzlichen Wetterumschwünge, die für diese Gegend typisch sind – ein milder Tag, der die zarten Grasschösslinge hervorlockt, gefolgt von einem kli r renden Frosttag, der jeden frischen Trieb zu einem graubraunen leblosen Etwas versengt –, in diesem Jahr nicht ertragen könnten. Heuer öffneten sich die Triebe ohne Braunfäule, die Knospen schwollen zu prächtigen Blüten an. Auf den von Narzissen gelb schimmernden Feldern wimmelte es von kleinen u n sichtbaren Lebewesen. Die alten A p felbäume waren mit schneeweißen Blüten bedeckt und ließen ihren Duft in der milden Luft treiben. Auf einem Weg durch ein blassblaues Meer von Sternh y azinthen durchfuhr mich plötzlich ein Satz aus der Erinn e rung: »Dies hat mich einmal froh gemacht.« Ich blieb stehen, hielt einen Augenblick inne und ve r suchte, diese Empfindung zu begreifen. Während ich so dastand, dachte ich an Jamie, wie er schon als Säugling versucht hatte, den Mond zu fassen, und dazu seine winzigen Armchen in die Höhe gereckt hatte. War mein Bemühen nicht ebenso zum Sche i tern verurteilt?
    Dank des schönen Wetters lammten meine Schafe leicht. Welch ein Segen angesichts meiner sonstigen Mühe. Manchmal r ührte mich der Anblick dieser winzigen Geschöpfe, deren Fell sich blendend weiß vom üppigen frischen Gras abhob. In ihrer Leben s freude sprangen sie mit allen vieren in die Luft. Staunend betrachtete ich sie. Würde ich es noch erl e ben, wie sie groß wurden, ich sie scheren und zum Hammel bringen konnte, damit sie eigene Lämmer warfen? In solchen Momenten verspürte ich eine t ö richte Wut auf ihr dummes Herumtollen. »Blödes Vieh«, stieß ich dann hervor. »Ist froh, hier zu sein, an einem der verfluchtesten Orte dieser Welt.« Dies geschah immer dann, wenn mir ein neuer Kran k heitsfall zu Ohren gekommen war, und noch einer, und noch einer.
    Denn das warme Wetter brachte mehr Tod mit sich, als wir für möglich gehalten hätten. Nicht ei n mal der Cucklett Delf in seiner neu erwachten Schönheit konnte unsere geschrumpfte Zahl verbe r gen, obwohl ihn Kaskaden von Schlehenblüten über und über bedeckten, zarter als die Spitze an unseren schönsten Altartüchern. Jeden Sonntag wurden die Lücken zwischen uns größer, verringerte sich die Entfernung zwischen der Felsenkanzel des Herrn Pfarrers und der letzten Reihe von Gläubigen.
    »Wir sind Golgatha geworden – die Schädelstä t te«, sagte Michael Mompellion am letzten Maison n tag bei seiner Predigt. »Und doch sind wir auch Gethsemane, der Garten des Wartens und des Geb e tes. Gleich unserem heiligen Herrn und Heiland kö n nen wir Gott nur anflehen: › Lass diesen Kelch an mir vorübergehen. ‹ Aber danach, geliebte Freunde, mü s sen wir wie er die Worte hinzufügen: › Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine. ‹ «
    Am zweiten Junisonntag hatten wir einen traurigen Wendepunkt erreicht: Nun lagen ebenso viele unter der Erde, wie noch auf ihr wandelten. Mit dem Hi n scheiden von Margaret Livesedge hatte die Anzahl der Toten einhundertundachtzig Seelen erreicht. Wenn ic h manchmal abends auf der Haupts traße durchs Dorf ging, spürte ich, wie mich ihre Geister bedrängten. Dabei fiel mir auf, dass ich mit t lerweile nur noch kleine Schritte machte, den Kopf einzog, die Arme verschränkte und seitlich eng an den Leib presste, als wolle ich ihnen Platz lassen. Hegten auch andere diese schrecklichen Gedanken? Oder wurde ich allmählich wahnsinnig? Immer hatte es Furcht gegeben, vom ersten Moment an, aber was bisher vertuscht wurde, war nun in nacktes Entsetzen umg e schlagen. Wer von uns noch übrig war, fürcht e te den Nächsten und die Ansteckung, die vielleicht jeder insgeheim schon in sich trug. Verstohlen wie Mäuse huschten die Leute herum und versuchten zu ko m men und zu gehen, ohne einer anderen Seele zu b e gegnen.
    Ich brachte es nicht mehr fertig, einem Nachbarn

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