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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: brooks
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ins Gesicht zu schauen, ohne ihn mir tot vorzustellen. Anschließend ertappte ich mich bei der Vorstellung, wie wir ohne seine Handwerkskunst am Pflug und Webstuhl oder auf dem Schusterschemel zurecht kommen würden. Längst gab es in allen Gewerben große Lücken. Seit dem Tod des Hufschmieds mus s ten Pferde, die ein Hufeisen verloren, unbeschlagen herumlaufen. Mälzer und Steinmetz fehlten uns ebenso wie Zimmermann und Tuchweber, Dachd e cker und Schneider. Auf vielen Feldern lag die Scholle ungebrochen da, ohne Egge, ohne Saatgut. Ganze Häuser standen leer. Ganze Familien waren von uns gegangen und damit auch Namen, die man hier seit Jahrhunderten kannte.
    Jeden von uns packte die Furcht anders. Der Mä l zer Andrew Merrick zog sich, lediglich in Begleitung seines Hahns, auf ein Einsiedlerleben in eine Hütte zurück, die er sich selbst nahe dem Gipfel des Sir William Hill notdürftig erbaut hatte. Im Dunkel der Nacht stahl er sich regelrecht zum Mompellions Well hinunter, um wissen zu lassen, was er brauchte. Da er nicht schreiben konnte, ließ er einfach einen Becher mit einem Rest der benötigten Dinge zurück: ein paar Haferkörner, Heringsgräten.
    Einige betäubten ihren Schrecken mit Alkohol und ihre Einsamkeit in schamloser Umarmung. Darunter auch Jane Martin, jenes strenggläubige Mädchen, das auf meine Buben aufgepasst hatte. Die Ärmste mus s te ihrer ganzen Familie ins Grab nachschauen. A n schließend trieb sie sich im Wirtshaus herum, wo sie bis zur Bewusstlosigkeit trank. Binnen eines M o nats hatte sie ihre Trauerkleidung und die sauertöpf i sche Miene abgelegt. Es tat mir weh, wenn ich mit anh ö ren musste, wie einige junge Säufer über ihre Verä n derung witzelten: von einer, die »so kalt wie ‘ne Hundeschnauze« war, zu »‘nem derben Weib s stück, das kaum die Beine zusammenhalten kann«. Eines Abends begegnete ich ihr, als sie im Dunkel unsicher nach Hause schwankte, und nahm sie mit in meine Kate in der Absicht, sie warm und nüchtern sicher ins Bett zu verfrachten und am Morgen ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Ich fütterte ihr ein bisschen Lammeintopf, den sie aber umgehend wieder unve r daut von sich gab. Am nächsten Morgen war sie i m mer noch so schrecklich krank, dass sie von meinem gut gemeinten Vortrag vermutlich nicht allzu viel begriff.
    Aber auf den seltsamsten Weg führte die Furcht John Gordon. Gordon, der seine Frau in jener Nacht, als Anys Gowdie ermordet wurde, geschlagen hatte, war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Deshalb war keiner sehr überrascht, als er mit seiner Frau im Frühjahr nicht mehr zum Sonntagsgottesdienst nach Cucklett Delf kam. Da die beiden am hintersten Dorf ende lebten, hatte ich John schon seit vielen Wochen nicht mehr gesehen, im Gegensatz zu Urith, mit der ich ab und an kurz gesprochen hatte. Daher wusste ich, dass sie dem Steinbruch bewusst fern blieben, und das nicht aus Krankheitsgründen. Urith hatte noch nie viele Worte verloren. Ihr Mann hielt sie so unter der Knute, dass sie verängstigt und stumm h e rumschlich und jedes Gespräch scheute. Könnte es sie doch zu einem Verhalten verleiten, das ihr Mann nicht billigte. Mir war aufgefallen, dass Urith dünner, ausgemergelter und hagerer als sonst aussah, aber da dies auf die meisten von uns zutraf, dachte ich mir nicht recht viel dabei.
    Da war das völlig veränderte Aussehen von John Gordon schon etwas ganz anderes. An einem Tag, der ganz der Krankenpflege gegolten hatte, war ich noch spätabends zum Well gegangen, um einen für die Pfarrküche bestellten Sack Salz zu holen. Im schwindenden Tageslicht dauerte es eine ganze We i le, ehe ich die gebeugte Gestalt erkannte, die sich auf einem steilen Pfad durch die Bäume langsam bergan bewegte. Trotz des kühlen Abends war der Mann bis zur Taille nackt und hatte sich nur ein Stück Sackle i nen um die Hüften geschlungen. Er war bis zum Sk e lett abgemagert. In der Linken trug er einen Stab, auf den er sich schwer stützte. Offensichtlich kostete ihn der Aufstieg sehr viel Mühe. Anfänglich konnte ich in der hereinbrechenden Dämmerung nicht sehen, was er in der Rechten trug. Aber als ich vom Well nach unten stieg und näher an ihn herankam, erkan n te ich es endlich. Es handelte sich um eine geflocht e ne Lederpeitsche, durch deren Enden man kurze N ä gel getrieben hatte. Während John Gordon den Pfad hinaufstieg, sah ich, wie er ungefähr alle fünf Schri t te stehen blieb und die Peitsche hob, um sich selber zu schlagen.

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