Das Pestzeichen
Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, glaubte der Bursche, dass der Oheim ihn vergessen hätte, und wagte ihn abermals anzusprechen.
»Wer ist Paracelsus?«
Der Oheim atmete laut aus, blickte auf und schlug das Buch zu.
»Er war vor mehr als hundert Jahren Arzt, Alchemist, Astrologe, Mystiker, Laientheologe und Philosoph. Er hat diese Schriften angefertigt, in denen er sein Wissen über die Säfte des menschlichen Körpers zusammengefasst hat.« Urs hörte dem Oheim aufmerksam zu, der hinzufügte: »Du weißt, dass dein Vater nicht begeistert ist, wenn du deine Zeit mit mir verbringst.«
Urs zuckte mit den Schultern. »Das ist mir einerlei, denn ich möchte Wundheiler werden.«
»Dein Vater hat andere Pläne mit dir«, ermahnte ihn der Oheim.
Doch anstatt dem beizupflichten, bekam Urs einen trotzigen Gesichtsausdruck. »Ich bin nicht geboren, um Soldat zu sein.«
»Was dein Vater wohl dazu sagen wird?«, lachte der Arzt leise.
»Ich habe es bereits Mutter erklärt …«
»Ach, Urs«, lachte der Oheim nun laut, »deine Mutter darf nicht mitreden. Dein Vater will, dass du wie alle männlichen Nachkommen der Familie Blatter Soldat wirst.«
»Aber du bist doch Wundarzt«, unterbrach ihn der Bursche aufmüpfig.
»Auch ich war Soldat. Erst auf dem Schlachtfeld wurde ich zum Arzt gemacht.«
»Das wusste ich nicht«, antwortete Urs erstaunt.
Bendicht Blatter betrachtete seinen Neffen voller Zuneigung und konnte nicht verhindern, dass sich sein Mund zu einem feinen Lächeln formte. Du könntest mein Sohn sein. Der Sohn, der mir verwehrt blieb , dachte er wehmütig. Nicht nur, dass der Junge die gleichen Vorlieben hegte wie er, der Neffe hatte auch sein Aussehen. Urs’ Haare waren ebenso kupferfarben wie die von Bendicht, beide hatten Sommersprossen auf der Nase. Er ist das Gegenteil von seinem dunkelhaarigen Vater , lachte Bendicht innerlich.
»Warum grienst du?«, fragte Urs und blickte seinen Oheim unsicher an.
»Du weißt nicht, dass ich in jungen Jahren Soldat gewesen bin?«, lenkte Bendicht den Burschen ab.
Urs schüttelte den Kopf.
»Wie alt bist du?«, fragte der Oheim den Neffen.
»Ich werde im Winter neunzehn Jahre alt«, antwortete Urs gereizt. »Aber das weißt du, schließlich bist du mein Pate!«
Bendicht nickte. »Wohl wahr! Ich bin dein Pate, trotzdem war ich mir deines Alters nicht sicher. Du weißt, ich bin nicht mehr der Jüngste«, scherzte er und begann zu erzählen: »Ich war jünger als du, vielleicht sechzehn, als ich eines Tages einen fremden Mann traf. Ich hütete die Kühe auf der hochgelegenen Weide hinter der Berghütte deines Großvaters, als ich den Fremden auf mich zukommen sah. Damals ahnte ich nicht, dass wenige Monate später der große Krieg beginnen würde, in den viele Staaten verwickelt werden sollten. Du, mein Junge, bist zwar in die Zeit des Krieges hineingeboren, doch da sich die Schweiz weitgehend aus den militärischen Auseinandersetzungen herausgehalten hat, bist du ohne Entbehrungen groß geworden.« Der Oheim lächelte seinen Neffen an und strich ihm liebevoll durch das leicht gewellte Haar. Dann fuhr er fort: »Der Fremde kam aus dem Reich der Deutschen und war bei uns in der Schweiz unterwegs, um unsere Männer als Soldaten anzuwerben.«
Urs’ Stirn kräuselte sich, als er fragte: »Warum ist er in unser Land gekommen? Hatten die Deutschen keine Männer, die sie anwerben konnten?«
Bendicht war immer wieder aufs Neue über die Wissbegier seines Neffen erstaunt. »Wir Schweizer genießen seit Hunderten von Jahren den Ruf, besonders gute Soldaten zu sein. Bei vielen deutschen und französischen Königen befanden und befinden sich unter deren Gardetruppen auch Schweizertruppen«, erläuterte Bendicht seinem Neffen die Zusammenhänge. »Als der Fremde mir von dem aufregenden Leben eines Söldners erzählte, merkte ich, wie eintönig mein Leben hier in den Bergen war. Ich witterte das Abenteuer und wollte mich unbedingt einem Tross anschließen.«
Urs’ Augen blickten erstaunt. »Hattest du keine Angst, in die Fremde zu gehen?«
Bendicht schüttelte den Kopf. »Du musst wissen, dass die eidgenössischen Truppen in dem Ruf stehen, unbesiegbar zu sein. Ich träumte davon, in den Dienst eines Reisläufers zu gelangen. Was sollte mir da passieren?«
Urs grübelte, und Bendicht erkannte die nächste Frage im Blick des Jungen, bevor er sie stellte. Deshalb erklärte er: »Reisläufer sind im Gegensatz zum Fußvolk bewaffnete Reiter und stetig unterwegs, also
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