Das Pestzeichen
Geschwister eine Grube für den Vater aushoben. Sie stellte sich an das Grab ihrer Mutter und hielt in Gedanken Zwiesprache mit ihr.
Ach, Mutter, wenn ich dich nur um Rat fragen könnte! Soll ich zu deiner Schwester Agnes und zu ihrem widerwärtigen Mann gehen? Es wäre schwer für sie, ein weiteres Maul satt zu bekommen. Auf unserem Hof aber erinnert mich alles an euch und das Verbrechen, das dort stattgefunden hat. Wo soll ich hin? Was soll ich tun? Ich fühle mich schrecklich allein …
Susanna schniefte in ein Tuch, das sie im Rockbund stecken hatte, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Es war der Totengräber, der sie freundlich ansah. »Geh zu meiner Frau. Unsere Hütte steht am Ende des Zauns. Ich rufe dich, wenn es soweit ist.«
Dankbar stimmte sie zu.
Die Frau des Totengräbers trug ein weinendes Kind mit hochroten Wangen auf ihren Hüften, während ein anderes in einem Weidenkorb lag und schlief.
»Sie zahnt«, erklärte sie und versuchte das wimmernde Mädchen zu beruhigen. Während die Frau eine Melodie summte, füllte sie einen Becher mit Wasser, den sie Susanna reichte.
»Danke«, flüsterte Susanna und trank gierig, denn sie hatte lange nichts getrunken.
»Das mit deiner Familie tut mir leid«, sagte die Frau des Totengräbers und wagte es kaum, Susanna anzuschauen.
Die konnte nur traurig nicken.
Da die Frau mit dem weinenden Kind beschäftigt war, dachte Susanna über die letzten Worte ihres Vaters nach. Was hat es mit den magischen Schriften auf sich? , überlegte sie. Welchen Schatz meinte Vater? Und wer ist dieser Jeremias? , grübelte sie weiter. So also hieß der unheimliche Mann, der sie damals wochenlang im Traum verfolgt hatte. Ausgerechnet ihm sollte sie vertrauen?
Ach, Vater, wie soll ich Jeremias finden? Warum hast du den bösen Menschen die Schriften nicht gegeben? Dann würdet ihr alle noch leben , klagte sie in Gedanken und spürte, wie Zorn sich in ihr Gemüt einschlich.
Sie wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht und scheuchte die schlechten Gefühle fort. Vielleicht hat Vater das alles in seinem Fieberwahn nur erfunden , überlegte sie, als der Totengräber die Hütte betrat.
»Bist du bereit?«, fragte er.
»Ja!«, antwortete Susanna leise und folgte ihm zum Friedhof.
–·–
Sie hatte das Fuhrwerk des Totengräbers in Kölln zurückgelassen. Nun musste sie zu Fuß nach Hause gehen. Um die Strecke abzukürzen, nahm sie den Weg an den Feldern vorbei und achtete peinlich darauf, wohin sie trat, denn sie wollte keine Frucht zertreten. Dank des Regens am Vortag hatten sich die trockenen Triebe aufgerichtet, sodass ein grüner Flaum auf den Äckern zu erkennen war. Susanna dachte an ihre Mutter, die ihr und ihren Geschwistern abends immer Geschichten erzählt hatte. Gerne hatten die Kinder die Legende von der Kornfrau von Püttlingen gehört, die die Ähren bewachte und jeden bestrafte, der das Korn nicht ehrte. Susanna lächelte bei dem Gedanken an ihre kleine Schwester Bärbel. Mit großen Augen hatte das kleine Mädchen der Mutter gelauscht, als sie die Legende von der Püttlinger Kornfrau erzählte. Seit diesem Tag passten Bärbel, ihre große Schwester Susanna und ihr Bruder Johann sorgsam darauf auf, dass sie keinen Kornhalm zertraten.
Susanna hielt im Gehen inne. Die Trauer überkam sie wie ein Donnerschlag, und sie sank in die Knie. Sie beugte den Oberkörper zu Boden und schrie ihren Zorn, ihre Wut, den Kummer über den Verlust der geliebten Menschen hinaus. Als sie keine Tränen und keine Kraft mehr hatte, kippte sie zur Seite und blieb liegen.
Susanna wusste nicht, wie lange sie so dagelegen und vor sich hin gestarrt hatte. Irgendwann stand sie mit zitternden Knien auf und ging müde und kraftlos weiter.
Sie fror, obwohl die Sonne schien. Sie schlug sich die Arme um den Oberkörper und rannte das letzte Stück zum Hof, als ein Schrei sie zusammenzucken ließ. Sofort duckte sie sich. Dann kroch sie zu einem Graben am Wegesrand, von dem aus sie auf das Gehöft ihrer Eltern blicken konnte. Als sie vorsichtig zwischen den Grashalmen hervorlugte, begann ihr Herz zu rasen.
Sie sah einen fremden Mann, der auf einen anderen, der vor ihm kniete, einschlug. Susanna glaubte zu erkennen, dass der Mann am Boden der Schäfer war. Ohne nachzudenken, kam sie aus ihrem Versteck hervor und lief hinunter zum Hof, doch einen Augenblick später hielt sie inne. Sie sah einen zweiten Mann, der einen schwarzen Mantel trug, aus dem Stall kommen. Jeremias , dachte
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