Das Pestzeichen
der Bürger. Gerüchte wurden gestreut, dass sie die Brunnen vergiftet und auf diese Weise den Schwarzen Tod über die Menschen gebracht hätten. Die Beschuldigten wurden so lange gefoltert, bis sie alles zugaben. Ihre angeblichen Geständnisse wurden überall verbreitet, sodass diese Menschen in allen Ländern des Deutschen Reichs verfolgt wurden. Heute weiß man, dass unter der Folter jedes Geständnis erpresst werden kann. Der Jesuit Friedrich Spee, dem mein Lehrmeister und ich damals bei der Versorgung kranker Soldaten in Trier geholfen haben, hat als Erster die Folter als nutzlos zur Erzwingung von Geständnissen beschrieben. Leider folgen nur wenige Spees Theorie.«
Urs blickte den Arzt ernst an. »Wenn ich dich recht verstehe, Oheim, hat man diese Menschen beschuldigt und bestraft, obwohl sie nicht schuldig waren?«
Bendicht nickte und seufzte: »Das ist meine Meinung, aber die zählt nur, wenn es mir gelingt, die wahre Ursache der Seuche zu ergründen.«
»Du hast sicherlich eine Vermutung?«, fragte Urs und blickte den Oheim forschend an.
»Eine?«, lachte Bendicht. »Mehrere!«
»Erzähl mir davon«, bettelte Urs und schlug die Hände aneinander.
Bendicht ging zu der Truhe, die in einer Ecke des Raums stand, und zog seine Schriften hervor. Er setzte sich zurück an den Tisch, wo er die Blätter auf der Tischplatte ausbreitete.
»Sieh hier!«, forderte er den Jungen auf. »Das ist die Meinung von Hippokrates, einem Gelehrten der Antike, und seinem Nachfolger Galen. Sie nennen als Ursache dieser Krankheit eine Fehlmischung der vier menschlichen Körpersäfte. Wenn Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle nicht mehr im Gleichgewicht seien, so ihre Lehre, breche die Pest aus.«
Als Bendicht den Gesichtsausdruck des Jungen sah, musste er laut lachen.
»Ich nehme an, als der Arzt Paracelsus die Vermutungen seiner antiken Kollegen las, hat er genauso ausgesehen wie du. Er bezeichnete die Vier-Säfte-Lehre nach Galen als groben Unfug. Für diese Meinung erntete er jedoch viel Kritik. Doch die Heilerfolge von Paracelsus waren berühmt, und deshalb konnte er sich eine Sondermeinung leisten. Wusstest du, dass seine Mutter Schweizerin war?«, fragte Bendicht mit glänzenden Augen. Als Urs verneinte, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu: »Die Schweiz hat nicht nur die besten Soldaten, sondern auch hervorragende Gelehrte.«
Als Urs das hörte, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. »Hatte Paracelsus eine Vermutung, warum Menschen an der Pest erkranken?«, fragte er.
Bendicht zuckte mit den Schultern. »Ich habe in seinen Schriften keinen anschaulichen Hinweis finden können. Paracelsus sagt, dass die Medizin auf Natur- und Gotteserkenntnis gründet. Es ist nicht einfach, seine Lehre zu verstehen.« Nachdenklich legte er die Schriften zusammen.
»Wie ist deine Meinung?«, fragte Urs, hoffend, mehr über die Forschungen seines Oheims zu erfahren.
Bendicht blickte seinen Neffen prüfend an. »Du musst mir versprechen, dass du das, was ich dir anvertraue, niemandem erzählen wirst.«
Urs nickte heftig. »Ich werde schweigen wie ein Grab«, flüsterte er.
Bendicht wusste, dass er dem Jungen vertrauen konnte. »Ich glaube, dass die Krankheit weder durch die Luft noch durch Gift ausgelöst wird. Ich glaube, sie wird durch die Berührung von Menschen untereinander übertragen.« Seine Stimme war so leise geworden, dass Urs eine Gänsehaut auf dem Rücken spürte. Jetzt ahnte er, warum der Oheim beim letzten Mal befohlen hatte, dass er sich die Hände wusch.
Der Junge dachte nach und fragte ebenso leise: »Aber wo kommt die Krankheit her?«
Bendicht blickte seinen Neffen geheimnisvoll an und flüsterte: »Das versuche ich zu erforschen!«
Kapitel 7
Susanna rannte den Hügel hinauf und überquerte das Feld mit dem zarten Grün des Sommerweizens, ohne sich umzudrehen. Als sie das angrenzende Wäldchen erblickte, lief sie hinein und hoffte, dass die dicht zusammenstehenden Bäume sie unsichtbar machten. Das Mädchen sprang von Stamm zu Stamm, und erst als Seitenstiche sie quälten, hielt sie inne. Schwer atmend blickte sie zurück, um zu sehen, ob ihr jemand gefolgt war.
Als sie nichts erkennen konnte, ließ sie den schweren Rucksack und den Beutel zu Boden gleiten und lehnte sich erschöpft gegen einen dicken Baum. Ihre Knie zitterten, und sie ging in die Hocke, wobei sie sich misstrauisch umblickte. Das Zwitschern der Vögel in den Baumkronen beruhigte sie, und sie ließ sich auf dem kühlen Waldboden
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