Das Pestzeichen
nieder.
Erleichtert schloss Susanna die Augen. Nachdem sie einige Male tief ein- und ausgeatmet hatte, beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie wischte sich müde über das Gesicht und starrte vor sich auf den Boden. Jeremias , dachte sie wütend und furchtsam zugleich. »Dieser Mann ist kein guter Mensch«, murmelte sie. Sein Gesicht mit den eiskalten Augen schob sich ebenso wie seine Grabesstimme in ihre Erinnerung. Warum wollte Vater, dass ich mich ihm anvertraue? , grübelte sie. Ich bin sicher, dass er heute nicht zufällig auf unserem Hof erschienen ist. Was wollte er dort? Er kam gewiss nicht, weil er helfen wollte. »Verdammt«, schimpfte sie leise. »Wenn ich nur wüsste, was er Vater damals übergeben hat.«
Was ist, wenn auch er diese magischen Schriften sucht? , dachte sie weiter, als sich plötzlich ein Gedanke in ihre Überlegung schlich, der sie erschaudern ließ. Das könnte bedeuten, dass er mit der Ermordung meiner Familie zu tun hat.
Susanna schüttelte heftig den Kopf. »Jeremias ist zwar ein furchteinflößender Mann, aber sicher kein Mörder«, versuchte sie sich zu beruhigen und hob ihren Blick zwischen den Baumkronen zum Himmel empor. »Trotzdem kann ich ihm nicht vertrauen, Vater!«, flüsterte sie.
Susanna spürte, wie die Kühle des Waldbodens durch ihre Kleider kroch. Sie erhob sich umständlich und klopfte mit der flachen Hand Schmutz und Tannennadeln von ihrem Rock ab. Als sie Rucksack und Beutel aufhob, überlegte sie, wohin sie gehen sollte. »Ich habe niemanden«, murmelte sie niedergedrückt. Beim Gedanken an ihre Tante Agnes stöhnte Susanna laut auf. »Ihr Mann wird nicht erfreut sein, mich wiederzusehen. Er wird mich aber auch nicht fortschicken können«, hoffte sie und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. »Vermaledeit!«, seufzte sie leise. »Ich bin in die falsche Richtung gelaufen und muss nun nach Brotdorf einen Umweg nehmen.« Die Strecke zurück, am niedergebrannten Hof ihrer Familie vorbei, traute sie sich nicht zu gehen.
Als Susanna den Weg durchs Köllertal in Richtung Püttlingen marschierte, begegnete ihr nicht eine Menschenseele. Die Gegend schien wie ausgestorben. Gehöfte lagen verwaist oder – wie der elterliche Hof – niedergebrannt am Wegesrand. Im Ortsteil Engelfangen erblickte sie ein Gebäude, durch dessen Schornstein eine mächtige Baumkrone herauswuchs. Das Haus muss schon lange unbewohnt sein , überlegte sie und ging eilends daran vorbei.
Susanna ließ ihren Blick über Wiesen und Felder schweifen. Nicht ein Stück Vieh grast auf den Weiden , dachte sie. Ihr schien, dass schon seit Jahren keine Herden mehr die Wiesen abgefressen hatten. Große Flächen auf den Koppeln waren mit hohen Disteln, Brennnesseln und anderem Wildkraut überwuchert. Und weil sie hier nicht einen Vogel am Himmel zwitschern hörte, überkam Susanna das Gefühl, das einzige Lebewesen auf der Welt zu sein. Ihr fröstelte bei dem Gedanken. Doch dann erinnerte sie sich daran, wie der Schäfer Thomas und ihr Vater sich eines Abends darüber unterhalten hatten, dass manche Landstriche durch den langen Krieg menschenleer geworden waren.
»Viele Männer sind im Krieg geblieben, und ihre Witwen sind in die Nähe der Städte gezogen«, hatte Thomas erklärt.
Susanna drehte sich einmal um ihre Achse und blickte in jede Richtung. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie ging niedergeschlagen weiter.
Am späten Nachmittag überfiel sie große Müdigkeit, sodass sie kaum die Augen aufhalten konnte. Ihre Beine schienen schwer wie Blei zu sein. Als sie an einem leer stehenden Gehöft vorbeikam, erwog Susanna, hineinzugehen und dort die Nacht zu verbringen. Doch der Gedanke, dass die früheren Bewohner dieses Hauses vielleicht ebenfalls ermordet worden waren, ließ sie zurückscheuen. Sie verwarf den Gedanken und schleppte sich weiter.
Susanna hatte Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und glaubte jeden Augenblick hinzufallen, als sie einen Viehunterstand inmitten einer Weide entdeckte. Ohne nachzudenken, nahm sie ihre letzte Kraft zusammen und lief darauf zu.
Drei Seiten des Verschlags waren mit Brettern zugenagelt worden, die teilweise verrottet waren. Der Unterstand bot genügend Schutz, zumal das Dach unversehrt war. Susanna ging hinein und erblickte auf dem Boden genügend Stroh, das ihr Nachtlager polstern würde. Zwar roch es muffig, doch Susanna warf es mit den Fußspitzen in die
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