Das Pestzeichen
sie sich das Kleidungsstück, setzte sich auf den Boden und zog es über. Die Sommerhose des Bruders reichte ihr zwar bis zum Knöchel, doch über dem Hinterteil saß sie stramm. Als Johann losprusten wollte, knuffte Susanna ihm in die Seite, sodass er nur stumm grinste. Johann zog sich das Hemd über den Kopf und sprang ins Wasser.
Susanna beneidete ihren Bruder, der auf den Grund des Teichs tauchte, als sei er im Wasser geboren. Da sie nicht schwimmen konnte, setzte sie sich ans Ufer und schaute ihren Geschwistern zu.
Nachdem Johann einige Runden geschwommen war, kam er zu Bärbel und erklärte, was sie zu tun hatte. Quiekend verließ das Mädchen Schritt für Schritt das Ufer, bis sie bis zur Hüfte im Wasser stand. Dann legte sie sich auf Johanns Arme, die er ihr entgegenstreckte, und machte die Schwimmbewegungen nach. Laut schnaufte sie die Luft ein und aus und bewegte Hände und Füße wie ein Frosch. Johann drehte sich mit ihr im Kreis, sodass das Mädchen glaubte zu schwimmen. »Ich kann schwimmen!«, jauchzte sie und blickte mit strahlenden Augen zu Susanna.
Plötzlich zog Johann seine Arme weg, und Bärbel ging unter wie ein Stein.
»Mal schauen, wie lang sie tauchen kann«, feixte Johann.
Susanna wollte schon ins Wasser springen, als Bärbel hustend auftauchte.
»Hast du gesehen, wo die Fische wohnen?«, fragte der Bruder lachend.
»Du dummer Mensch! Sie hätte ertrinken können«, schimpfte Susanna und warf einen Ast nach ihm.
»Unsinn«, verteidigte sich Johann. »Ich hätte sie vorher herausgefischt.«
Bärbel brach in Tränen aus und zitterte wie Espenlaub, obwohl es ein warmer Sommertag war.
Johann zeigte Reue: »Sei nicht böse, Bärbel! Ich werde es nicht noch einmal machen. Komm, ich zeige dir, wie du schwimmen kannst.«
Bärbel nickte zaghaft und legte sich wieder auf seine Arme.
Am Nachmittag konnte sie ohne Hilfe den Teich durchqueren.
Susanna atmete schwer ein und aus. Sie sehnte sich so sehr nach ihrer Familie, dass sie kaum Luft bekam. Zwar sagte ihr der Verstand, dass sie beide Geschwister und die Eltern nicht mehr wiedersehen würde. Doch sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie niemals wieder mit Johann reden und streiten und niemals wieder Bärbel trösten würde. Die Mutter würde ihr nie wieder über das Haar streicheln und der Vater sie nie wieder lachend anblicken.
»Lieber Gott, lass mich einschlafen und nicht wieder aufwachen«, betete Susanna und sah durch die verfaulten Bretter, wie die Sonne langsam unterging. »Welchen Sinn hat mein Leben noch?«
Als Susanna das kleine Messer, das aus dem Beutel gerutscht war, im Stroh liegen sah, hob sie es auf und wog es in ihrer Hand. Mit der anderen Hand griff sie an die Stelle auf ihrer Brust, unter der sie ihr Herz pochen fühlte. »Ein heftiger Stoß, und alles wäre vorbei«, murmelte sie. Doch wie ginge es weiter? Selbstmörder mussten auf ewig im Fegefeuer schmoren. »Ich würde meine Lieben im Himmel nicht treffen. Doch wenn ich weiterlebe, bis ich sterbe …«
Die Müdigkeit forderte ihren Tribut. Susanna schlief ein und träumte von braunhaarigen Engeln, die über die Himmelswiese hopsten.
Kapitel 8
Eckart Schiffer saß wie gelähmt an seinem Arbeitsplatz und starrte auf die Papiere, die auf seinem Tisch lagen. Mit einer einzigen Handbewegung wischte er laut fluchend die Blätter von der Tischplatte, sodass sie durchs Zimmer segelten. »Hurensohn!«, brüllte er und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Dieser elende Mistkerl«, schimpfte er leiser und blickte zu den Schriftstücken, die verstreut auf dem Boden lagen.
Bis zum Morgen hatte Schiffer gehofft, den Vertrag abschließen zu können. Doch nun war er sicher, dass sich nichts von dem, was man ihm versprochen hatte, erfüllen würde. Seine Pläne waren zerstört, und er war mittellos geworden.
Schiffer vergrub verzweifelt sein Gesicht in den Händen, als die Tür geöffnet wurde und jemand die Stube betrat.
»Verschwinde«, zischte er zwischen seinen Fingern hindurch.
Da er nicht aufgeschaut hatte, wusste er nicht, wer an seinen Schreibtisch getreten war, bis eine Stimme bestürzt fragte: »Begrüßt man so Frau und Kind?«
Schiffer nahm die Hände vom Gesicht und blickte in die großen Augen seiner Tochter Marie. Sofort erhob er sich und ging um seinen Arbeitstisch auf sie zu, um sie zu begrüßen. Seine Frau Sophie hielt ihm zaghaft die Wange hin, auf die er einen Kuss hauchte.
»Warum liegen die Blätter auf dem Boden?«, fragte
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