Das Pestzeichen
musste, um zu einem Wagner zu gelangen, der das Rad ausbessern konnte. Doch seitdem verlief die Reise ohne nennenswerte Schwierigkeiten, und sie kamen zügig voran. Nun, da das Ziel näherrückte, spürte Jaggi einen Anflug von Freude in sich aufsteigen. Er war auf das neue Leben gespannt, und er hoffte, dass es seiner Familie genauso ginge.
In Gedanken schätzte Jaggi die verbleibende Wegstrecke ab, als der achtjährige Leonhard quengelte: »Wie weit ist es noch?«
Seine Mutter strich ihm eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht und sagte tröstend: »Nicht mehr so lange, wie es schon gedauert hat.« Barbli hielt ihre Tochter Vreni im Arm, die eingeschlafen war.
»Ich habe Hunger«, jammerte der Junge. Sein Vater drehte sich auf dem Kutschbock zu ihm um und wollte ihn zurechtweisen, doch der Blick seiner Frau hielt ihn davon ab.
»Wir sind seit vielen Tagen ohne Unterbrechung unterwegs, Jaggi. Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht, und ein Kloster ist nicht in Sicht. Außerdem«, sagte sie und zeigte zum Himmel, »ziehen sich dunkle Wolken zusammen. Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen, bevor es regnet.«
Jaggi stöhnte innerlich auf. Die Zeit drängte, denn er musste in drei Tagen in Trier sein, um sich für das neue Heer einzuschreiben. Käme er zu spät, würde man seinen Posten durch einen anderen Soldaten besetzen. Er wusste jedoch auch, dass seine Frau recht hatte, denn Jaggi verlangte viel von seiner Familie. Trotz der Reisestrapazen quengelten die Kinder nur selten, wofür er dankbar sein musste. Zudem konnte Jaggi nicht leugnen, dass auch er ein flaues Gefühl in der Magengegend verspürte, denn die Mahlzeiten in den letzten Tagen waren eng bemessen gewesen. Seit Kaiserslautern hatten sie auf ihrem Weg durch die Kurpfalz keine Menschenseele gesehen. Sie hatten kein Kloster mehr passiert und waren an vielen verbrannten oder verlassenen Gehöften vorbeigekommen. Selbst die Handelsstraße, die von Norden nach Süden führte und auf der sie seit den frühen Morgenstunden fuhren, war menschenleer. Jaggi hob seinen Blick und sah die dunklen Wolkenfetzen, die sich langsam über ihnen zusammenzogen. Er überlegte und schlug schließlich vor: »Wir sind nicht mehr weit von Westrich, dem Land an der Saar, entfernt«, erklärte er. »Ich war dort während des langen Krieges und weiß, dass um Sulzbach und Saarbrücken herum ein großes Waldgebiet liegt, in dem es noch viel Wild gibt.«
»Die Wälder sind fast leergejagt«, entgegnete seine Frau, die Stirn runzelnd.
»Das stimmt«, gab Jaggi zu. »Doch die Leidenschaft des Grafen von Nassau-Saarbrücken ist die Jagd, und deshalb passen seine Waidmänner höllisch auf, dass niemand in dem Waldgebiet wildert.« Sein Blick schweifte zu seinem ältesten Sohn Urs. »Bereite die Armbrust vor, mein Junge, damit du uns zum Abendessen einen Hasen schießen kannst.«
»Aber Jaggi«, ermahnte ihn seine Frau. »Du bringst Urs in Gefahr! Wenn man ihn sieht oder hört …«
»Beruhige dich, Barbli! Wir Schweizer verstehen die lautlose und unsichtbare Jagd«, lachte ihr Mann. Seine Frau wollte etwas erwidern, doch als sie in die Augen ihrer Kinder blickte, die bei der Aussicht auf einen Hasenbraten leuchteten, schwieg sie, und Urs zog die Waffe unter dem Sitz hervor.
–·–
Als Susanna in aller Frühe in die Küche kam, um das Feuer im Herd zu entzünden, saß der Oheim am Tisch und hielt sich den Kopf. »Ich bin sterbenskrank«, jammerte er und blickte kaum hoch, als Susanna zu ihm trat und fürsorglich fragte: »Soll ich dir einen Sud aus Heilkräutern aufbrühen?«
Selbst das Nicken bereitete ihm Schmerzen, und er stöhnte laut auf. »Ich rühre nie wieder Karls Selbstgebrannten an«, schwor er. »Ich habe das Gefühl, als ob eine Herde Stiere in meinem Kopf umhertrampelt.«
Susanna hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. »Meine Mutter sagte immer, dass bei einem Kater nur ein kräftiges Frühstück hilft«, erklärte sie und schlug mehrere Eier in die Pfanne.
Nachdem der Oheim Eier und Brot gegessen und den Kräutersud getrunken hatte, fühlte er sich besser. Nachdenklich schaute er Susanna an. »Hast du dir alles merken können, was der Lauer Karl dir erzählt hat?«
Susanna nickte. »Ich weiß allerdings nicht, wo ich einen Bergspiegel und eine Wünschelrute finden kann«, erklärte sie.
»Wie Karl dir sicher gesagt hat, findet man Rutengänger oft dort, wo Arbeiten in der Erde stattfinden. Einen Bergspiegel könntest du von Vagabunden bekommen.
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