Das Phantom im Netz
stehe völlig neben mir. Wie hatte nur eine so große Geschichte daraus werden können?
Ich konnte ihn bei der Veröffentlichung natürlich nicht lesen, aber Markoffs Artikel in der New York Times am folgenden Tag war sogar noch länger als der vom Unabhängigkeitstag im Jahr zuvor, und er war bestens dazu geeignet, das Bild von Osama bin Mitnick in der öffentlichen Wahrnehmung zu zementieren. Markoff zitierte Kent Walker, den stellvertretenden Staatsanwalt in San Francisco: »[Mitnick] war wohl der meistgesuchte Hacker der Welt. Er hatte mutmaßlich Zugang zu Firmengeheimnissen im Wert von mehreren Milliarden Dollar. Er stellte eine sehr große Bedrohung dar.«
An jenem 4. Juli, als Markoffs erster Artikel veröffentlicht wurde, wurde ich nur wegen Verstößen gegen meine Bewährungsauflagen gesucht. Der Artikel hinterließ jedoch beim Leser den Eindruck, ich sei ein Superschurke und eine Bedrohung für alle Amerikaner. Sein Bericht über meine jetzige Verhaftung brachte auch die anderen Medien auf den Plan. Die Geschichte wurde in Dateline, Good Morning America und weiß Gott wie vielen anderen großen Sendungen aufgegriffen. Die Meldung von meiner Verhaftung beherrschte die Nachrichten drei Tage lang.
Ein Artikel in der Time, vom 27. Februar 1995, war typisch für den Ton der Berichterstattung. Der Untertitel lautete:
MEISTGESUCHTER HACKER AMERIKAS WURDE VERHAFTET
Auch mein vom Gericht bestellter Verteidiger in Raleigh hatte keine guten Nachrichten für mich. Ich wurde des Computerbetrugs in 23 Fällen angeklagt. In 21 der Fälle ging es um Anrufe, die ich über mein Handy getätigt hatte, das auf die Nummer eines Fremden geklont war. Die anderen beiden Fälle bezogen sich auf den Besitz von Informationen, namentlich der Handynummern mit elektronischer Seriennummer, die man fürs Klonen brauchte. Die Höchststrafe für jeden kostenlosen Anruf betrug 20 Jahre. Zwanzig Jahre für einen Anruf! Im schlimmsten Fall musste ich mit 460 Jahren rechnen.
Es sah schlecht für mich aus. 460 Jahre saß man nicht einfach mal so ab. Es war keine schöne Vorstellung, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu fristen, kein glückliches und produktives Leben führen zu können und vor allem keine schönen Stunden mehr mit meiner Mutter und Großmutter verbringen zu können. Wegen der geklonten Handynummern war ich auf jeden Fall dran (die Nutzung der fremden ESNs galt rechtlich als Computerbetrug). Ich konnte auch nicht leugnen, dass ich gegen meine Bewährungsauflagen aus dem Jahr 1989 verstoßen hatte, indem ich mich in die Voicemail des Sicherheitsbeauftragten von Pacific Bell, Darrell Santos, gehackt hatte, um an Informationen über den Teltec-Fall zu kommen. Auch der Kontakt mit »Computerhackern« entsprach den Tatsachen. Aber 460 Jahre für diese »schweren« Verbrechen? Gab es denn nicht mehr genügend Kriegsverbrecher?
Natürlich hatte das FBI auch die Kundendatenbank von Netcom mit mehr als 20 000 Kreditkartennummern gefunden, aber ich hatte keine der Nummern je benutzt. Daraus konnte mir kein Ankläger einen Strick drehen. Zugegeben, ich hatte die Vorstellung gemocht, dass ich jeden Tag für den Rest meines Lebens eine andere Kreditkarte benutzen konnte, ohne dass sie mir jemals ausgehen würden. Aber ich hatte niemals vorgehabt, sie zu benutzen, und habe es auch nie getan. Es wäre falsch gewesen. Meine Trophäe war die Kopie der Kundendatenbank von Netcom. Warum kapierte das keiner? Hacker und Spieler verstehen das instinktiv. Jedem richtigen Schachspieler reicht es, den Gegner zu besiegen. Man muss nicht auch noch sein Königreich plündern und ihm sein Eigentum wegnehmen, damit es Spaß macht.
Ich habe nie verstanden, warum meine Gegner sich nicht die tiefe Befriedigung vorstellen konnten, die aus dem Test der eigenen Geschicklichkeit erwachsen kann. Manchmal fragte ich mich, ob meine Motive so unverständlich für sie waren, weil sie selbst der Versuchung all dieser Kreditkarten erlegen wären.
Sogar Markoff räumte in seinem Artikel in der New York Times ein, dass ich offensichtlich nicht an einer finanziellen Vorteilnahme interessiert war. Eine Vorstellung davon, auf wie viel Geld ich verzichtet hatte, bekamen die Leser durch Kent Walkers Aussage, ich habe »mutmaßlich Zugang zu Firmengeheimnissen im Wert von mehreren Milliarden Dollar« gehabt. Aber da ich nie vorgehabt hatte, die Informationen zu benutzen oder zu verkaufen, war mir völlig egal, wie viel sie wert waren. Also worin genau bestand dann
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