Das Phantom im Opernhaus
populärste Oper?«
Paul dachte intensiv nach. Verdi … – wie hieß doch gleich diese bekannte …
»Nabucco wäre eine Möglichkeit gewesen und natürlich Aida. Darauf hättest du kommen müssen!«, tadelte Hannah. »Aida wurde 1871 zur Eröffnung des Suezkanals uraufgeführt. Verdi ist dabei die perfekte Mischung aus Gefühl und Action gelungen. Die Oper ist voll von Ohrwürmern: die Nil-Arie, der Triumphmarsch, das Todesduett am Ende. Aida ist gleichzeitig eine pompöse Ausstattungsoper und tief bewegend in der Figurenzeichnung. Nur ganz wenige Opern sind dermaßen brillant. Mitreißende Chöre und die Integration von orientalischen Klängen … Das absolute Highlight ist die Arie Holde Aida – das ist wahre Weltmusik!«
Paul blickte seine Tischnachbarin offen an. »Hannah, du verblüffst mich. Erst neulich hat sich Victor Blohfeld als Kenner der klassischen Musik entpuppt. Nun das Gleiche von dir. Kennst du dich wirklich so gut aus?«
Hannah grinste ihn selbstbewusst an. »Teste mich!«, forderte sie ihn auf.
»Also gut …« Paul dachte nach. Er suchte nach einem angestaubten Stück, für das sich Hannah ganz sicher nicht begeistern konnte. »Nehmen wir mal den Rosenkavalier von Richard Strauss. Was kannst du mir darüber sagen?«
»Erstaunlich, dass dir bei Verdi die Aida nicht eingefallen ist, du aber den Rosenkavalier kennst. Aber gut, wenn das eher deine Geschmacksrichtung ist, soll’s mir recht sein.« Sie zögerte nicht eine Sekunde: »Ein junger Typ liebt eine ältere Frau. Oder doch die Jüngere? Es ist nicht ganz klar. Diese Musikkomödie hält einige Überraschungen parat. Musikalisch allerdings gäbe es heute Ärger: Hat Strauss bei Mozart abgekupfert? Was soll’s, mittlerweile zitieren ja viele Komponisten schamlos ihre Vorbilder.«
Paul war ehrlich beeindruckt. »Du bist wirklich spitze. Alle Achtung! Aber nun raus damit: Wann hast du dir dieses Wissen angeeignet?«
»Ist schon eine Weile her. Sozusagen in einem früheren Leben. Oder glaubst du vielleicht, ich hatte schon immer vor, BWL zu studieren?« Sie schüttelte heftig den Kopf und ließ ihre Locken wippen. »In der Schule war ich in der Theater-AG, und Musik harte ich als Leistungskurs. Am liebsten hätte ich auch mein Studium so ausgerichtet, aber Mama bestand darauf, dass ich mich entweder bei den Juristen oder wenigstens bei den Betriebswirtschaftlern einschreibe. Und wieder hat das Schicksal ein großes, verkanntes Talent einfach links liegen lassen.«
»Du brichst mir das Herz«, spöttelte Paul im gleichen Tonfall, schloss jedoch gleich ein Lob an: »Wenn ich Blohfeld und dir beim Fachsimpeln zuhöre, komme ich mir wie ein Kulturbanause vor.«
Hannah sah ihn prüfend an. Dann sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken: »Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Es wird Zeit, dass du dich intensiver mit deiner neuen Materie beschäftigst.«
Sie plauderten und flachsten noch eine Weile munter weiter, bis Hannah Anstalten machte, sich zu verabschieden. Paul rang mit sich, ob er ihr von seinem Erlebnis im Untergeschoss des Opernhauses berichten sollte. Würde sie ihn ernst nehmen oder auslachen? Doch dann gab er sich einen Ruck und erzählte von den bangen Minuten im dunklen Kellergang.
Hannah hörte aufmerksam zu. Je länger Paul redete, desto breiter wurde ihr Grinsen. »Du befasst dich einfach viel zu viel mit Kriminalfällen und witterst überall das Böse«, befand sie. »Für das alles gibt es doch ganz vernünftige Erklärungen. Das Licht ist ausgegangen, weil im Keller vermutlich Zeitschalter eingebaut sind, damit die Lampen nicht den lieben langen Tag brennen, wenn jemand vergisst, sie auszuknipsen. Die Tür war wahrscheinlich gar nicht verschlossen, sondern hat nur geklemmt. Ja, und dein Phantom war vermutlich bloß der Luftzug, der entstand, als die Tür wieder aufsprang.«
»Nein, nein«, widersprach ihr Paul. »Ich bin ganz sicher, dass sich jemand in dem Flur aufgehalten hat. Ich habe es förmlich gerochen!«
»Gerochen? Soso. Ein Phantom mit Mundgeruch, oder hatte es sich parfümiert?«
»Mach dich nur lustig.« Paul bereute es nun doch, sie ins Vertrauen gezogen zu haben.
Hannah bemerkte seinen Missmut und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Keine Sorge, ich erzähl’s niemandem weiter.« Wieder etwas ernsthafter fuhr sie fort: »Wenn du partout davon überzeugt bist, dass dich jemand in eine Falle gelockt hat, frage ich mich: Wer sollte das denn gewesen sein? Etwa das junge Mädel, das dir
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