Das Phantom im Opernhaus
Paul auch nicht mehr lange zu überlegen, welche Personen zu den Buchstaben passten: Mit »J.K.« war bestimmt kein anderer als Jürgen Klinger selbst gemeint. Das würde zumindest erklären, warum der Dramaturg das alte Heft interessant genug gefunden hatte, um es einzustecken. Hinter »R.H.« konnte sich möglicherweise Ricky Haas verbergen. Nur mit dem letzten Buchstabenpaar wusste Paul nichts anzufangen. Er kannte niemanden an der Oper, dessen Initialen auf »E.A.« lauteten. Wen hatte Baumann wohl gemeint? Weshalb hatte er die Kürzel überhaupt auf dem Programmheft vermerkt, und warum fand Klinger das so wichtig?
Bevor Paul weiter über diese Zusammenhänge nachdenken konnte, musste er sich in Sicherheit bringen – auf dem Gang hörte er jetzt Schritte. Paul ließ das Programmheft zurück in Klingers Tasche gleiten, ging auf leisen Sohlen zur Tür und verschwand so unauffällig, wie er gekommen war.
8
Es war ein herrlicher Septembertag, warm und mild, und in der Luft lag die Erinnerung an einen sonnenverwöhnten Sommer. Paul verließ eine gute halbe Stunde vor dem Beginn der nächsten Fotoprobe seine Wohnung am Weinmarkt, nahm die direkte Route quer durch die Altstadt, holte sich unterwegs einen Coffee-to-go von Mr. Bleck und war 20 Minuten später am Opernhaus.
Ehe er hineinging, nahm sich Paul Zeit, um die beeindruckende Fassade auf sich wirken zu lassen, denn dieses Gebäude verdiente es, dass man sich mit ihm beschäftigte: Der im Grunde neubarock angelegte Monumentalbau entsprach trotz seiner Größe und Klobigkeit in vielen Einzelformen und Ornamenten doch eher dem Jugendstil. Dem Trutzigen und Pompösen war das Filigrane und Liebliche entgegengesetzt. Baumeister Heinrich Seeling hatte seinerzeit ganze Arbeit geleistet, sinnierte Paul und bewunderte die aufgesetzten Türmchen und Figuren der hohen Giebelfront.
Statt der Abkürzung durch den Keller nahm Paul den zwar umständlicheren, aber sicheren Weg durch den hellen und belebten Flur im Erdgeschoss. Auf die Minute genau traf er an der Probebühne 2 ein – und musste enttäuscht feststellen, dass er so ziemlich der Einzige war, der pünktlich erschienen war. Außer zwei Sängern, die über ihre Noten gebeugt in einer Ecke hockten, und einer Frau mit rötlichem Haar und einem Schminkkoffer in der Hand war noch niemand da.
Paul ging auf die Frau zu, die zu seinem Befremden trotz des strengen Rauchverbots eine Zigarette in der Hand hielt. Paul schätzte sie auf 50 Jahre, vielleicht etwas älter. Sie war fast zwei Köpfe kleiner als er, trug ein goldenes Kreuz über ihrer schwarzen Bluse und kam ihm vage bekannt vor. Vermutlich hatte sie zu den Schaulustigen gehört, die sich nach Norbert Baumanns Tod am Tatort eingefunden hatten. Vielleicht war sie sogar diejenige, deren Gespräch er danach an der Garderobentür belauscht hatte. »Habe ich mich in der Zeit geirrt oder hat sich der Termin verschoben?«, sprach Paul sie an und stellte sich als der neue Bühnenfotograf vor.
Die Frau ließ ihre halb gerauchte Zigarette zu Boden fallen und trat die Glut mit der Fußspitze aus. »Ich bin die Maskenbildnerin, Paula Dorfner.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Nein, Sie haben sich nicht geirrt. Aber wir sind hier Kummer gewöhnt. Pünktlich sein muss nur die arbeitende Bevölkerung. Für die Herren Dramaturgen gelten andere Gesetze. Die nehmen sich alle Freiheiten raus.«
Das klang überraschend bitter, fand Paul. Er sah ihr ins Gesicht: graue Haut, verkniffene Augen, die nach Pauls Empfinden etwas Boshaftes ausstrahlten und nicht zu dem christlichen Symbol auf ihrer Brust passten. »Kommt es wohl öfter vor, dass man Sie warten lässt?«, fragte er.
»Es ist sogar die Regel«, antwortete Paula Dorfner. Nachdem sie Paul offenbar als harmlos eingestuft hatte und nicht befürchtete, von ihm verpfiffen zu werden, zündete sie sich die nächste Zigarette an.
Es dauerte nicht lange, bis die restlichen Sänger und Darsteller eintrudelten, darunter auch der Star der Truppe, Sopranistin Irena, die Freundin des verstorbenen Norbert Baumann. Paul hatte ja viel von ihr gehört und war entsprechend gespannt darauf, sie nun live erleben zu können.
Die Bezeichnung »abgehalfterte Diva«, die Jasmin Stahl gewählt hatte, traf auf Irenas äußeres Erscheinungsbild voll und ganz zu. Ihr schulterlanges, goldblond gefärbtes Haar umsäumte ein nicht mehr junges, bleiches Gesicht mit großen Augen, die eher leer als traurig wirkten. Ihr Gang war gebeugt, was den
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