Das Phantom im Opernhaus
ohne Maske und Kostüme statt. Die Fotos, die er schoss, würden letztlich also zu nichts nütze sein. Denn weder für die Schaukästen noch für die Programme oder zur Weitergabe an die Presse waren sie zu gebrauchen. Als er Klinger gleich zu Beginn der Aufnahmen darauf aufmerksam machte, sagte dieser nur lapidar: »Das dient der Übung. Bei der Gelegenheit können Sie sich schon mal die besten Positionen aussuchen und vormerken.« Dann ging er.
Paul betrachtete seinen Einsatz eher als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Klinger wollte so viel wie möglich aus dem vereinbarten Festhonorar herausholen und Paul lieber für die Katz arbeiten lassen als ihm frei zu geben.
Als er merkte, dass die Mimen auf der Bühne seine Auffassung teilten und sich durch seine Knipserei sogar in ihrer Konzentration gestört fühlten, wurde es Paul zu dumm. Zumal eine unscheinbare Nebendarstellerin mit kurzem, braunen Haar Paul als Demonstrationsobjekt auserkor und sich ihm wie aus heiterem Himmel mit theatralischer Geste vor die Füße warf. Ohne jede Vorwarnung begann sie herzergreifend zu schluchzen, schlug mit den Fäusten auf den Bühnenboden und jammerte mit erstickter Stimme: »Dieser Fotograf – er zerstört alles! Er vergiftet die Atmosphäre, nimmt mir die Luft zum Atmen! Freunde, haltet zusammen! Ergreift ihn! Entfernt ihn von hier!« Gleich darauf stand sie wieder aufrecht und sah ihn herausfordernd an.
Paul war es nicht gewohnt, mit Menschen umzugehen, die sich auf eine so exaltierte Weise ausdrückten. Er kapitulierte, steckte die Kamera zurück in die Tasche und erntete dafür kurzen Applaus von einem dickleibigen Sänger, einem übel gelaunten Bariton.
Paul machte sich auf die Suche nach Klinger, denn er wollte ein klares Wort mit ihm sprechen. Er wollte sich nicht vor der Arbeit drücken, aber auch nicht seine Zeit mit nutzlosen Tätigkeiten vergeuden. Dafür war er sich schlichtweg zu schade.
Mit einem kleinen Vorrat aufgestauter Wut verließ er den Probenraum und wechselte in den Verwaltungstrakt. An Klingers Bürotür klopfte er höflich, aber bestimmt und drückte die Klinke. Er steckte seinen Kopf in den Raum. Klingers Schreibtisch war verwaist.
Wo mochte der Dramaturg sein, fragte sich Paul und wollte die Tür bereits wieder schließen, als er Klingers Jackett an einem Kleiderständer in der Ecke des Büros hängen sah. Paul zögerte. Er dachte an den Vorfall in der Dunkelkammer. Sollte er … – aber nein, das durfte er nicht tun!
In Pauls Kopf kämpften Wünsche und Verbote gegeneinander an. Der Sieger in diesem Streit war jedoch schnell ausgemacht. Paul konnte einfach nicht widerstehen. Auf Zehenspitzen schlich er in den Raum. Er tastete das Jackett ab, fasste in die rechte Tasche. Er bekam Papier mit glatter Oberfläche zu fassen. Er zog es heraus und erkannte ein Programmheft aus einer etliche Jahre zurückliegenden Spielzeit. Paul musterte es ratlos. Warum hatte Klinger das Heft eingesteckt? Und weshalb heimlich, denn Paul sollte es ja offensichtlich nicht mitbekommen?
Er blätterte die schmale Broschüre durch, überflog die Texte und sah sich die Bilder an. Die damaligen Akteure waren ihm größtenteils unbekannt, und die knappen Sätze, mit denen die Inszenierungen beschrieben waren, sagten ihm wenig. Worin also lag die Brisanz dieses Papiers?
Erst auf der Rückseite wurde Paul fündig. Dort hatte jemand etwas notiert. Mit blauem Kugelschreiber und in kleiner Schrift, sodass Paul es beinahe übersehen hätte. Es waren nur einzelne Buchstaben, jeweils mit einem Punkt dahinter. Die Buchstaben waren in Versalien geschrieben und zu Zweierpaaren verbunden.
Paul las leise vor: »R.H.«, »J.K.«, »E.A.« Neben die Buchstabenpaare waren ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen gesetzt worden.
Paul hatte nicht die geringste Ahnung, was diese Notizen bedeuten sollten. Er überlegte hin und her und fragte sich, ob Baumann hier fototechnische Fachausdrücke abgekürzt hatte. Wenn, dann waren es keine, die er kannte.
Ihm wurde mulmig, als ihm wieder einfiel, dass sein Eindringen in Klingers Büro jederzeit bemerkt werden könnte. Es war an der Zeit, das Programmheft zurück in die Jacke zu stecken. Aber noch konnte sich Paul nicht losreißen. Er ging die Buchstaben wieder und wieder durch. Dann schloss er kurz die Augen und seufzte. Fototechnische Fachausdrücke? Manchmal sah man doch den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Kürzel waren sicher Initialen, nichts anderes als abgekürzte Namen.
Nun brauchte
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