Das Phantom im Opernhaus
zu. Ricky Haas konnte einem in der Tat die Hölle heiß machen. Es war keine Rede davon gewesen, dass Paul nach Klingers Tod nicht weiterbeschäftigt würde, im Gegenteil: Haas hatte ihn mit neuen Aufgaben eingedeckt, und der Druck war enorm gestiegen, alles im Zeichen des Opernballs. »Sicher, aber auch ein Regisseur vom Schlage eines Ricky Haas wird Verständnis haben, wenn …«
»Wird er nicht!«, fuhr ihm die Maskenbildnerin über den Mund. »Außerdem weiß ich, was unsere Irena braucht.« Mit diesen Worten förderte sie eine Flasche Sekt zutage, die ihr die Sängerin bereitwillig abnahm. Während Irena sich daran machte, den Verschluss zu öffnen, richtete Paula Dorfner ihre Aufmerksamkeit auf Paul und fixierte ihn aus ihren stechenden Augen, als sie ihm erklärte: »Es geht nicht nur darum, auf Geheiß von Klinger oder nun eben Haas zu spuren. Die haben bloß ihre eigenen Interessen im Kopf. Aber wir müssen an diejenigen denken, die das alles hier bezahlen. Ich meine wirklich bezahlen.«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Paul, dem die Maskenbildnerin immer unsympathischer wurde.
»Ja, wo leben Sie denn?« Paula Dorfner startete einen neuen Versuch, Irena zu schminken. Dabei redete sie ungeniert weiter: »Glauben Sie, die mickrigen Eintrittsgelder der Zuschauer würden die Kosten auch nur ansatzweise decken?«
»Aber die Stadt finanziert doch …«, setzte Paul an.
»Viel zu wenig!«, führte die energische Rothaarige seinen Satz zu Ende. »Ein Opernbetrieb wie unserer überlebt nur dank großzügiger Sponsoren. Eduard Ascherl ist derjenige, den wir zufriedenstellen, wenn Irena auf Ihren Fotos gut rüberkommt.«
Ascherl? Bei diesem Namen begann es in Pauls Kopf zu rattern. Er brachte ihn mit einer alteingesessenen Nürnberger Kaufmannsfamilie in Verbindung. Eduard Ascherl war Kopf des Clans, der über eine florierende Ladenkette für Bodenbeläge herrschte und dem außerdem ein glückliches Händchen im Immobiliengeschäft nachgesagt wurde. Auch dass Ascherl Mäzen des Staatstheaters und der Oper war, wusste Paul. Über seinen tatsächlichen Einfluss auf den Betrieb war er sich bisher aber nicht im Klaren gewesen.
»Dann will ich mal mein Bestes geben«, sagte Paul und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mehr über Ascherl und sein Wirken an der Oper in Erfahrung zu bringen.
Das Shooting geriet trotz der dicken Schminkschicht, die Paula Dorfner auf Irenas verheultem Gesicht aufgetragen hatte, zum Flop. Die Augen der Sängerin waren gerötet, ihre Tränensäcke auch bei schmeichelhaftester Beleuchtung nicht zu übersehen und ihre Haltung trotz animierender Worte gramgebeugt.
»Sorry, aber so wird das nichts«, brach Paul die Aufnahmen nach vielen misslungenen Anläufen ab.
Irena entschuldigte sich schluchzend. Das Divenhafte, das ihr bei ihrer ersten Begegnung noch angehaftet hatte, war nun gänzlich verschwunden. Sie wirkte auf Paul nur noch deprimiert und verzweifelt. Er verstaute seine Fotoausrüstung. Als die Maskenbildnerin kopfschüttelnd und leise schimpfend gegangen war, setzte er sich zu Irena an den Rand der Probebühne.
»Bitte lassen Sie mich allein«, sagte die Sängerin und schnäuzte sich in ein Taschentuch.
»Ich möchte ungern gehen, bevor ich Ihnen nicht wenigstens meine Hilfe angeboten habe.«
Irena sah ihn kurz an. Dann zuckten ihre Mundwinkel. »Sie? Wie wollen Sie mir denn helfen?«
»Vielleicht, indem ich Ihnen zuhöre«, schlug Paul freundlich vor.
»Das bringt doch nichts. Das hat Paula auch schon getan. Sie hat sogar für mich gebetet. Schön für sie, wenn sie im Glauben an Gott ihren Halt findet. Ich kann das leider nicht.« Sie starrte eine Weile stumm ins Leere. Dann verschränkte sie locker die Arme und deutete mit dem Kopf hinauf zur Bühne. »Ich kann es hier aushalten. Hier, in der Oper, wo die Tat geschehen ist. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es wirklich ertrage, aber es stört mich nicht im Geringsten, meine Arbeit hier fortzuführen. Manchmal kommt es mir nur – trotz all der Menschen, der Kollegen – leer vor. Ist das nicht seltsam? Was wehtut, ist die Einsamkeit, Norberts Abwesenheit. Ich denke immer noch, er müsste jeden Moment mit seiner Kamera um die Ecke biegen.«
»Na, sehen Sie«, sagte Paul sanft. »Es tut gut, wenn man darüber spricht.«
»Unsinn!« Irena sah ihn abweisend an. »Wie ich schon sagte: Das Reden bringt mir nichts, es verstärkt den Schmerz nur noch mehr. Und auch das Gequatsche von der Glossner ist
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