Das Phantom im Opernhaus
den gesuchten Operntitel gefunden: Lucrezia Borgia. Paul durchforstete das Netz nun nach der Handlung des Stücks, las die Zusammenfassung mit wachsender Unruhe und stieß einen leisen Pfiff aus. Denn auch in Donizettis Werk gab es – wie in so vielen klassischen Opern – Tote. Donizetti allerdings ging im Vergleich zu seinem Kollegen Richard Strauss weniger handfest vor: Statt seine Akteure mit einem Beil hantieren zu lassen, bevorzugte der Italiener das Töten mit Gift.
Paul klickte das Browserfenster weg, sodass wieder das Tatortfoto den Bildschirm ausfüllte. Baumanns Leichnam war auf dem Bild bereits abgedeckt, aber Paul erinnerte sich noch genau an die ersten Eindrücke, die er bekommen hatte, als er zusammen mit Blohfeld eingetroffen war: Baumanns Gesichtszüge waren verzerrt gewesen, und vor seinem Mund stand Schaum. Anzeichen für einen Tod durch Vergiften. Und hatte nicht auch Jasmin Stahl bei ihrem zufälligen Saunatreff bestätigt, dass die Kripo bereits nach einem Giftmischer suchte?
Er stand vor der Wahl, sich grübelnd hinzulegen und dann doch nicht einschlafen zu können oder mit jemanden über seinen Verdacht zu reden. Am besten gleich mit jemandem, der sich auskannte und ohnehin zuständig war für die Klärung der beiden Todesfälle. Also ging er zur Fensterbank und nahm sein Telefon aus der Ladestation.
Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, begann Paul das Gespräch mit einer Sehnsuchtsbekundung, die im Übrigen ehrlich gemeint war.
»Du möchtest mich sehen?« Katinkas Stimme klang erwartungsvoll und warm.
»Ja. Lieber heute als morgen«, raunte Paul ins Telefon und ließ die Blicke über die Dächer der umliegenden Häuser des Weinmarktes schweifen.
Doch seine Gesprächspartnerin roch den Braten schneller, als er gedacht hatte: »Hannah hat mir verraten, dass du wieder etwas im Schilde führst«, meinte Katinka mit neckischem Unterton. »Rück schon raus damit: Was ist es?«
Paul wollte sie nicht enttäuschen und blieb zunächst beim rein Privaten: »Ich rücke sehr gern raus damit. Aber dafür müssen wir uns treffen. Durchforste deinen Terminplaner und räum einem alten Verehrer 15 Minuten deiner kostbaren Zeit ein. Das dürfte reichen – fürs Erste.« Versonnen betrachtete er das kleine Schmuckkästchen, das immer noch ungeöffnet auf der Fensterbank stand.
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, säuselte Katinka durch den Hörer. »Aber nun zur Sache: Da du ja sowieso im Opernhaus herumspionierst, kannst du mir doch sagen, was du bisher herausgefunden hast. Gibt es verwertbaren Klatsch und Tratsch? Oder hat Spürnase Paul womöglich schon so etwas wie eine heiße Spur?«
Paul musste unwillkürlich lächeln. »Ich dachte, du hältst nichts von der Mitarbeit von Laien? Wie dem auch sei: Ich glaube, ich bin auf etwas gestoßen. Die Todesarten bei beiden Taten lassen sich mit etwas Fantasie thematisch mit dem Inhalt der Opern verknüpfen, in deren Kulissen die Toten gefunden wurden.«
Stille. »Das heißt …?«, fragte Katinka abwartend.
»Das heißt, dass Jürgen Klinger inmitten von Strauss’ Elektra aufgefunden wurde. Eine Oper, in der es um den Mord mit einem Beil geht.«
»Ein Beil könnte es tatsächlich gewesen sein, mit dem Klingers Schädel zertrümmert wurde«, ging Katinka erstaunlich schnell auf Pauls Vermutung ein. »Allerdings fehlt bislang eine entsprechende Tatwaffe.«
»Trotzdem ist es vielleicht eine Spur.«
»Ja, Paul, es ist eine Spur, die schnell im Nichts verläuft. Es sei denn, du hast noch mehr zu bieten.«
»Das habe ich: Es gibt eine Parallele zum Fall Norbert Baumann. Ich bin zwar kein Opernkenner«, musste Paul einräumen, »aber wenn ich richtig recherchiert habe, ist Baumann im Szenenbild eines Stücks gestorben, in dem auf der Bühne so einige Leute an Gift sterben.«
»Gift?« Katinka klang überrascht. »Da hast du ins Schwarze getroffen. Inzwischen steht tatsächlich fest, dass Baumann vergiftet wurde. Wir wollen das morgen an die Presse rausgeben.«
Paul streckte den Arm aus und betrachtete das Mobilteil in seiner Hand wie ein seltenes Tier. Das hatte er noch nicht erlebt, dass Kathinka auf seine Ermittlungen so positiv reagierte. Die Zeiten änderten sich wirklich. Schnell führte er das Telefon zurück an sein Ohr. »Es stimmt also wirklich? Es gibt also ein Muster?« Er schluckte. »Ist das ein Zeichen dafür, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben?«
»Mal langsam«, bremste Katinka seinen Elan. Na bitte – so
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