Das Phantom im Opernhaus
Zierteich einfand, in dem ein großer Schwarm Flamingos bereits auf ihn zu warten schien. Einbeinig standen die Gefiederten – ebenso elegant wie gelassen – in dem flachen Wasser und ließen sich die Spätsommersonne auf die rosa Federn scheinen. Paul lehnte sich gegen einen Zaun und erfreute sich an dem schönen Anblick.
Zunächst war er ebenso entspannt wie die grazilen Wasservögel. Bis sich in sein Wohlbefinden eine feine Prise Nervosität mischte. Ein leichtes Bauchgrummeln machte sich bemerkbar.
Zwar hatte er sich den Text für seinen gleich folgenden großen Monolog gut eingeprägt und war ihn gedanklich zigmal durchgegangen. Aber nun stellte sich wohl doch das gefürchtete Lampenfieber ein. Je länger er am Wasser stand und wartete, desto mehr bezweifelte er, dass er die Frage aller Fragen über die Lippen bringen würde, ohne sich heillos zu verhaspeln. Nur gut, dass sich die Flamingos von seiner Unruhe nicht anstecken ließen …
»Hübsch, gell?« Katinka war neben ihm aufgetaucht, ohne dass er ihr Kommen bemerkt hatte.
Paul wurde augenblicklich von einem neuen Nervositätsschub durchflutet. Sein Magen schien sich zehn Zentimeter zu senken. Wie weggewischt war der geprobte Text, dahin die ganze Souveränität, mit der er ihr gegenübertreten wollte! Vielerlei ging ihm gleichzeitig durch den Kopf: Mit welchem Thema sollte er einsteigen? Wäre es geschickt, erst einmal auf die Opernmorde zu sprechen zu kommen? Oder ob er besser erst eine Bilanz ihrer Freundschaft zog und dann langsam auf die Übergabe des Schmuckkästchens überleitete? Oder aber ob er am Anfang ein gänzlich anderes, unverfängliches Thema wählen sollte …
Katinka nahm ihm die Entscheidung ab. Sie schmiegte sich an ihn und drückte ihre Lippen sanft auf die seinen. Ihre Finger suchten nach seiner Hand. Ehe er sich versah, hatte sie die kleine Schatulle ertastet, er spürte ihr leichtes Zögern, ihre Verwunderung. Als der lange, ausgiebige und intensive Kuss vorbei war, nahm sie das Kästchen behutsam aus seiner Hand. Der sanfte Schleier, der meist über ihren Augen lag, wich dem strahlenden Blau ihrer Iris. »Ist es das, was ich vermute?«, fragte sie leise. Eine fast kindliche Vorfreude lag über ihrem Gesicht.
Paul stammelte: »Es ist ein …«
Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf den Mund. »Pssst. Nicht verraten.« Dann wandte sie sich wieder dem Kästchen zu. »Darf ich?«, fragte sie, wartete sein zustimmendes Nicken ab und begann vorsichtig, das Geschenkpapier zu lösen. Sie ging sehr sorgsam vor und ließ sich gebührend Zeit damit. Dann legte sie eine Pause ein, sah Paul abermals voller Erwartung an, atmete tief ein, schloss die Augen und ließ den Deckel aufschnappen.
Fünf, vielleicht zehn Sekunden verstrichen, bevor sie die Augen wieder öffnete. »Ein Ring.« Katinkas Pupillen waren groß und dunkel. »Und was für ein schöner!« Plötzlich umarmte sie Paul stürmisch und drückte sich fest an ihn. Paul spürte die warme Nässe auf seiner Schulter, als Katinka ihre Freudentränen nicht länger zurückhalten konnte. Dann löste sie sich von ihm und sah ihn strahlend an. »Danke, Paul. Vielen, lieben Dank!«
Paul schluckte, denn die eigentliche Aufgabe lag ja noch vor ihm. Er musste sich zweimal räuspern, bevor er seine Frage stellen konnte: »Katinka, ich liebe dich. Willst du …« Er musste sich abermals räuspern. »Willst du meine Frau werden?«
Neue Freudentränen bahnten sich ihren Weg über Katinkas Wangen, als sie Paul offen ansah und ohne jedes Zögern antwortete: »Ja, Paul, ich liebe dich auch. So wie ich noch nie jemanden geliebt habe. Und ja, ich will deine Frau werden!«
Paul, überwältigt, wollte etwas Bedeutungsvolles darauf sagen, doch die Worte waren ihm ausgegangen. Das Einzige, was ihm einfiel, war, den Kuss fortzusetzen.
Es dauerte lange, bis sich beide wieder voneinander lösten. Damit war es besiegelt, dachte Paul staunend und selig, sie waren verlobt. Endlich …
Die folgende Stunde verbrachten sie damit, durch den Tiergarten zu schlendern, den wunderschönen Kuss viele Male zu wiederholen und sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern. Paul fühlte sich wie im siebten Himmel, und nur allmählich mischten sich in ihr Gespräch auch wieder andere Dinge, die sie beschäftigten:
»… so bin ich auf keine verwertbaren Spuren gestoßen. Aber es könnte nicht schaden, sich näher mit Eduard Ascherl zu befassen«, schlug Paul vor, als sie schließlich doch noch am Affenhaus ankamen.
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