Das Phantom im Opernhaus
den roten Schlepper mit anerkennenden Blicken. »Wirklich ein prächtiges Stück. Aber, nein, ich bin aus anderen Gründen hier. Können wir uns für einen Moment ungestört unterhalten?«
Der Landwirt deutete mit ungelenker Geste auf einen Strohballen an der Scheunenwand. »Bitte. Da drüben.«
Paul folgte ihm und setzte sich neben den Bauern. Aus der Nähe sah der Mann weitaus älter aus, als Paul zunächst vermutet hatte. Auch wirkte er jetzt nicht mehr dynamisch und offensiv, sondern in sich gekehrt und verschlossen. »Was wollen Sie wissen über Irene?« So wie er den Namen seiner Tochter aussprach, klang es wie ein Vorwurf.
»Ich fürchte, Ihre Tochter steckt in Schwierigkeiten«, setzte Paul an.
»In Schwierigkeiten? Seit ihrer Geburt!«, knurrte der Bauer.
»Es sind wirklich sehr ernste Probleme, die auf Irena zukommen«, präzisierte Paul.
»Sie heißt nicht Irena, sondern Irene. Aber der Name hat ihr nicht gepasst, so wie ihr nichts gepasst hat, was wir ihr gegeben haben.« Der Bauer schnäuzte sich laut. »Geht es wieder um den Alkohol?«, fragte er und klang gereizt. »Es ist immer das gleiche Lied. Als junges Mädel hatte sie schon diese Flausen im Kopf. Verkleidete sich als Prinzessin, tanzte auf der Wiese und trat den Kühen das Gras platt. Nie hat sie mit angepackt im Haus und auf dem Acker. War halt was Besseres. Ich habe ihr gesagt: Sei nicht dumm, Kind! Bleib bei uns auf dem Hof! Lern einen Burschen kennen, der auch mal zupacken kann! – Wir selbst hatten ja leider keinen Buben. Nur die Irene.«
»Wenn Sie mich erklären lassen …«, versuchte Paul dazwischen zu kommen.
Doch der Bauer machte sich Luft: »Und was tut das dumme Ding? Lässt uns im Stich! Geht raus, in die Stadt! Und ich meine nicht Herzogenaurach oder Höchstadt. Nein, die große weite Welt musste es sein! Berlin, Hamburg, Italien, ja, und jetzt Nürnberg. Verdient dort als Sängerin und Tanzmariechen ihr Geld. So was Unsolides! Es ist doch kein Wunder, dass sie an der Flasche hängt. Die großen Städte haben sie verdorben.«
Paul sah ein, dass er mit Worten allein nicht weiterkam. Er fischte den Farbausdruck des Halstuchfotos aus seiner Jackentasche und zeigte es dem Landwirt. »Können Sie mir sagen, ob dieses Tuch Ihrer Tochter gehört?«
Der Mann sah das Bild kurz an, schüttelte den Kopf und erkundigte sich mit aufkeimendem Misstrauen: »Warum wollen Sie das denn wissen? Sind Sie etwa von der Polizei? Hat Irene etwas ausgefressen?«
Er spricht, als ob sie immer noch ein Teenager wäre, dachte sich Paul. »Nein, keine Sorge. Ich bin nur ein Bekannter Ihrer Tochter und will ihr helfen. Sie ist in Nürnberg in eine unschöne Sache verwickelt, und dieses Tuch spielt in diesem Zusammenhang eventuell eine Rolle.«
»Geben Sie noch mal her«, sagte der Mann und betrachtete das Bild nun mit größerer Sorgfalt. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann das nicht sagen. Habe mich nie dafür interessiert, für welche Klamotten Irene ihr Geld verpulvert. Vielleicht weiß es die Frau.« Er erhob sich und winkte Paul hinter sich her.
Sie gingen auf das Bauernhaus zu, das genau wie der Traktor schon bessere Zeiten hinter sich hatte. Etliche, eigentlich notwendige Reparaturen musste sich der Bauer gespart haben. Der ehemals kalkweiße Anstrich war seit mindestens 20 Jahren nicht erneuert worden. Sie betraten eine geräumige Diele, in der es kalt, feucht und dunkel war.
»Sie müssen der Frau das Bild ganz dicht vor die Nase halten. Sie kann es nicht selbst nehmen. Leidet unter dieser Krankheit, Parkinson.« Der Bauer teilte Paul dies im selben Tonfall mit, in dem er kurz zuvor die technischen Daten seines Schlüters aufgeführt hatte.
In einer großen und kaum weniger klammen Küche saß eine ältliche Frau in einer rotweiß karierten Schürze an einem Tisch. Ihr Körper wirkte gekrümmt, die Arme lagen angewinkelt auf der Tischplatte. Ihr Gesicht war von einer seltsamen Starre geprägt: Sie sah zu Paul auf, zeigte jedoch sonst keine Regung.
Paul begegnete der beklemmenden Atmosphäre mit einem offenen Lächeln. Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich der Frau gegenüber und stellte sich höflich vor. Da Irenas Mutter nicht antwortete, fuhr Paul fort, umriss grob die momentane Lage ihrer Tochter und hielt ihr das Bild des Halstuchs hin. Die Bäuerin sah es sich lange an. Paul wurde schon unruhig, weil keinerlei Reaktion zu erkennen war. Doch schließlich hob die Frau mühsam ihren rechten Arm an. Er zitterte stark,
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