Das Phantom im Opernhaus
faulenzen, Büroarbeit zu erledigen oder gar abzuspülen, wollte er die freie Zeit für einen erneuten Abstecher zu seinen Eltern in Herzogenaurach nutzen. Er meinte, nach seinem letzten, ziemlich kurzen Besuch dort etwas gutmachen zu müssen, und bei der Gelegenheit konnte er auch gleich überprüfen, warum der Benzinmäher seines Vaters nicht funktionierte. Hertha hatte ihm dies im Vertrauen erzählt, weil Hermann sich niemals die Blöße gegeben hätte, seinen Sohn um technischen Rat zu bitten.
Aus der alten Dunkelkammer seines Fotolabors, mittlerweile zur Rumpelkammer degradiert, holte er einen Werkzeugkoffer. In dem herrschte zwar ein heilloses Durcheinander, denn Paul war weder ein begabter noch ein passionierter Handwerker. Doch für eine notdürftige Reparatur des Rasenmähers sollte es genügen. Er verstaute den Koffer in seinem Renault und fuhr los.
Er befand sich ungefähr auf halbem Weg, als ihm abermals Irenas vertrackte Situation in den Sinn kam. Das Foto des Halstuchs steckte noch immer in seiner inneren Jackentasche, und er vollzog eine impulsive Planänderung: Statt nach Herzogenaurach fuhr er weiter bis Hessdorf.
Unterwegs ließ er sich von der Telefonauskunft die genaue Adresse von Irenas Eltern geben. Das Navigationsgerät, das er vor einigen Jahren in einem Discountmarkt zum Schnäppchenpreis gekauft hatte, leitete ihn zumindest in die Nähe der gesuchten Straße am südlichen Rand des mittelfränkischen Dorfes. Im Schritttempo steuerte er seinen Renault an mehreren Grundstücken vorbei, um die richtige Hausnummer zu finden. Doch die Bewohner dieser Gegend zeigten sich sparsam im Verteilen von Ziffern. Schließlich blieb Paul nichts anderes übrig, als sich durchzufragen. Er wurde wieder hinaus bis an den Ortsrand geschickt.
Vor einem großen Gehöft hielt er an. Es war ein Bauernhaus mit angeschlossenen Stallungen. Das Ganze sah weder modern noch sonderlich gepflegt aus. Als Paul aus dem Wagen stieg, achtete er darauf, wohin er trat.
Er läutete an der Tür des Haupthauses, wartete geduldig, doch niemand öffnete. Beim Warten versuchte er sich vorzustellen, wie man die divenhafte Irena, deren Welt das glänzende Showbusiness war, mit einem Bauernhof zusammenbringen konnte. Immerhin – hier war sie aufgewachsen. Hier, zwischen Kuhstall und Kartoffelacker, hatte sie ihre Kindertage verbracht.
Paul sah sich auf dem Hof um, entdeckte eine Scheune, deren Tor offen stand, und machte sich auf den Weg dorthin. Noch bevor er ankam, wusste er, dass er hier mehr Glück haben würde: Er hörte das Scheppern von Werkzeug. Als er die Scheune betrat, sah er sich einer bunten Sammlung landwirtschaftlicher Gerätschaften gegenüber, von denen sich die meisten in einem desolaten Zustand befanden. Im Zentrum stand ein Traktor mit kaminroter Lackierung, die reichlich ausgeblichen war. Der Traktor, offensichtlich von älterer Bauart, zeichnete sich dadurch aus, dass die Frontscheibe der überdachten Führerkabine schräg nach vorn gekippt war, anstatt nach hinten ausgerichtet zu sein.
»Da staunen Sie, was?« Ein weißhaariger Mann, kompakt und kräftig, kroch unter dem basaltgrauen Motorblock des Traktors hervor, zog sich den rechten Arbeitshandschuh aus und ging auf Paul zu. »Das ist der Schlüter Super 1250 VL. Auch nach über 20 Jahren noch gut in Schuss!« Er musterte Paul erwartungsfroh. »Sie sind wegen der Anzeige hier?« Da Paul nicht gleich reagierte, redete der Mann weiter: »125 PS-Sechszylindermotor, Allrad. Es ist die verlängerte L-Version, das erkennen Sie am Lüftungsschlitz in der Haube. Wenn Sie ihn kaufen, können Sie nichts verkehrt machen. Ein echtes Liebhaberstück! Ich trenne mich gar nicht gern von dem Schlüter. Aber wir haben in der Genossenschaft den neuen Deutz-Fahr Agroton angeschafft. Das ist ein starker Schlepper! Genauso gut wie ein Fendt. Nur eben mit noch mehr PS unter der Haube. Da muss jeder von uns seinen Obolus leisten. Ich kann den Schlüter nicht mehr halten. Wollen Sie eine Runde auf dem Acker drehen?«
»Nein, äh, danke«, sagte Paul etwas verlegen. Traktoren gehörten nicht gerade zu seinen Spezialgebieten, sodass er sich schwerlich auf ein Fachgespräch einlassen konnte. »Ich bin wegen Irena hier. Sind Sie ihr Vater?«
Der alte, kernige Bauer sah ihn mit halb offenem Mund an. Er hatte sichtlich Mühe, die ihm gestellte Frage zu verarbeiten. »Sie sind gar nicht wegen dem Schlüter gekommen?«, fragte er mit kaum verborgener Enttäuschung.
Paul würdigte
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