Das Phantom im Opernhaus
viel Grün auf den Balkonen und in den Blumenkästen. Paul suchte den Namen Haas auf dem Klingelschild. Da die Haustür jedoch offen stand, stieg er ohne zu läuten bis in den dritten Stock.
Er drückte den Klingelknopf neben der Wohnungstür, doch niemand öffnete. Dass jemand zu Hause war, hörte Paul aber daran, dass es innen laut schepperte. Er klingelte erneut, wieder ohne Resultat. Er drückte an der Tür – und sie gab überraschenderweise nach. Wahrscheinlich war das Schloss nicht richtig eingerastet, reimte sich Paul zusammen und trat ein.
Er ging durch einen geschmackvoll gestalteten Flur und wollte sich gerade bemerkbar machen, als er sich unvermittelt ducken musste: Ein Gegenstand flog um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei, knallte gegen die Wand und zerbarst in Scherben. Es war nicht die erste Tasse, Schüssel oder Kanne: Aus den vielen Porzellansplittern am Boden schloss Paul, dass im Verlauf eines heftigen Streits schon andere Teile der Küchenausstattung in Wurfgeschosse umfunktioniert worden waren. Schutzsuchend ging Paul in Deckung und drückte sich eng hinter einen Heizkörper.
Aus dieser Position konnte er einen Garderobenspiegel sehen, der in einer Nische rechtwinklig zum Flur hing. Er gewährte ihm freie Sicht in die Küche: Ricky Haas war nur von hinten zu sehen, doch Paul erkannte ihn zweifelsfrei an seinen auftoupierten Haaren. Die Frau, mit der er stritt, war ungefähr im gleichen Alter, eine hochgewachsene, grazile Erscheinung mit einem schmalen Gesicht und ebenso intelligenten wie angriffslustigen Augen. In ihrer Rechten hielt sie einen wurfbereiten Suppenteller.
»Noch eine weitere Lüge aus deinem Mund, und ich ziele nicht mehr daneben!«, drohte sie.
Haas hob die Arme, als wollte er sich ergeben. »Lisbeth, sei nicht albern. Das Ganze haben wir doch schon hundert Mal diskutiert.«
»Dann diskutieren wir es heute das hunderterste Mal!«
»Das bringt doch nichts. Was bezweckst du bloß damit? Was willst du denn von mir hören?«
»Zum Beispiel, dass es dir leid tut!«
»Ja, es tut mir leid.« Haas ließ langsam seine Hände sinken. »Bist du jetzt zufrieden? Dann kann ich ja endlich gehen. Auf mich wartet ein Haufen Leute.«
Haas hatte nicht ausgesprochen, als der Teller flog, ihn am Arm traf und abprallte, bevor er sich auf den Fliesen in kleinste Teilchen auflöste. »Bist du jetzt völlig durchgedreht?«, herrschte Haas seine Frau an. Er rieb sich den Arm. »Überspann den Bogen nicht! Deine Eifersuchtsszenen sind etwas für die Bühne, aber nicht für unsere Küche!«
»Pah!« Frau Haas suchte sich unverzüglich das nächste Teil aus dem Service: diesmal eine Kaffeetasse. »Auf der Bühne wolltest du mich ja nicht mehr haben. Für mich hast du Heim und Herd vorgesehen. Damit ich dir nicht im Wege bin, wenn du wieder ein frisches Flittchen aufgabelst.«
»Lisbeth, es reicht! Das ist absolut lächerlich!« Ruhiger fügte er hinzu: »Ich habe dir versprochen, dass es damit vorbei ist. Ich halte mein Wort.«
Die Tasse flog und verfehlte ihr Ziel knapp. »Lügen! Nichts als Lügen!«, schrie seine Frau. »Das Vertrauen kannst du nie im Leben wieder herstellen! Das ist kaputt, zerstört, irreparabel! Ich glaube dir gar nichts mehr! Nie wieder!«
Haas ging vorsichtig auf seine Frau zu. Leise, aber mit entschiedener Schärfe sagte er: »Wenn das so ist, frage ich mich, warum du noch hier bist. Warum du nicht die Scheidung einreichst, so wie du es mir seit Jahren androhst. Und – warum du bei der Polizei für mich ausgesagt hast.«
Die Augen von Frau Haas wurden glasig. »Weil … – weil ich nicht loskomme von dir. Ich habe es versucht, und irgendwann werde ich es schaffen. Aber noch … Außerdem, die Kinder …«
»Die Kinder sind groß. Denen wären geschiedene Eltern wahrscheinlich lieber als welche, die sich ständig streiten«, meinte Haas lapidar. Dann sagte er so leise, dass Paul ihn kaum verstehen konnte: »Ist es nicht eher so, dass du einen sehr triftigen Grund dafür gehabt hast, eine Falschaussage zu meinen Gunsten zu machen?«
Lisbeth Haas, die bereits eine weitere Tasse angehoben hatte, stellte sie wieder ab. »Was meinst du?«, fragte sie misstrauisch.
»Ich meine, dass dich nicht die geringsten Skrupel plagen würden, die Familie im Stich zu lassen. Und ich meine, dass du deine Aussage in Wahrheit nicht abgegeben hast, um mir zu helfen – sondern um dich selbst zu schützen.«
Paul wurde in seinem Versteck unruhig. Er wunderte sich, welch seltsame
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