Das Phantom im Opernhaus
dennoch gelang es ihr, Paul das Bild abzunehmen.
»Nun?«, fragte Paul mit einfühlsamer Ruhe. »Erkennen Sie dieses Halstuch wieder? Gehört es Ihrer Tochter?«
Ein winziges Lächeln zeigte sich auf dem versteinerten Gesicht der Frau. »Ja«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Es gehört Irene. Es ist eines ihrer Lieblingstücher. Das hat sie schon sehr lange.« Sie sah hoffnungsvoll zu Paul auf. »Hilft Ihnen das? Hilft es Irene?«
Paul entglitten die Gesichtszüge. »Verd …« Er konnte sich gerade noch bremsen und verschluckte seinen Fluch. Mit aufgesetzter Zuversicht erklärte er: »Ja, es hilft mir. Und ich werde dafür sorgen, dass man fair und gerecht mit Ihrer Tochter umgeht.«
Paul beeilte sich mit der Verabschiedung. Der Bauer brachte ihn auf den Hof hinaus. Wahrend sie sich die Hände gaben, sagte er: »Ich wusste schon immer, dass es mit Irene mal so weit kommen würde. Es war nie was Rechtes mit ihr. Einen Sohn hätte man haben müssen. Sie ist nichts wert.«
Paul sah ihn böse an.
23
Finstere Gedanken begleiteten Paul auf seiner Fahrt zurück nach Nürnberg. Keine Minute länger hätte er es in diesem bedrückenden Haus mit seinen kalten und heruntergekommenen Räumen ausgehalten. Er war noch ganz benommen von der Lieblosigkeit und der vorwurfsvollen Art, mit der der alte Bauer über seine Tochter gesprochen hatte. Er konnte sich ausmalen, wie trostlos Irenas Kindheit und Jugend verlaufen sein musste, bis sie es fertigbrachte, sich vom Elternhaus loszureißen und ihren eigenen Weg zu gehen. Dabei mochte die Änderung ihres Namens eine wichtige Rolle gespielt haben: der Austausch eines winzigen Buchstabens als Zeichen der Abgrenzung und Eigenständigkeit.
Paul atmete tief ein und hatte dennoch das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Denn das Ergebnis seines Ausflugs aufs Land erschien ihm rundum niederschmetternd: Nicht nur wegen der beklemmenden Familiensituation, aus der Irena hervorgegangen war. Sondern vor allem wegen der Bestätigung ihrer Mutter, dass das vom Tatort entfernte Tuch tatsächlich Irena gehörte. Die Schlinge um ihren Hals zog sich damit enger und enger zusammen. Paul hatte echte Skrupel, seine neue Erkenntnis an Katinka weiterzugeben, denn er sah Irena in einer Zwangssituation, und sie tat ihm leid. Aber spätestens heute Nachmittag, nach Feierabend, würde er es tun müssen.
Er staunte über sich selbst, dass er es nach seiner Tour aufs Land noch pünktlich zum Beginn der Proben ins Opernhaus schaffte. Wie üblich quittierten die bereits anwesenden Akteure sein Erscheinen mit desinteressierten bis genervten Blicken. Inzwischen machte sich Paul nichts mehr daraus, sondern suchte sich ein freies Plätzchen am Rand der Bühne. Er setzte sich neben einen stark gepuderten jungen Mann, der ein Notenheft auf dem Schoß hielt. Im Hintergrund sangen sich zwei Frauen ein, während eine einsame Ballerina Stretchingübungen vollzog.
Paul fühlte sich mittlerweile schon beinahe zu Hause im Kreise der Mimen und Musiker, trotz ihrer Spinnereien und Spleens. Das Naturell des Künstlers lag schließlich auch ihm im Blut, und hier konnte er es einmal richtig ausleben. Das Fotografieren auf der Bühne bedeutete mehr als bloß eine neue Herausforderung – es machte ihm Spaß! Vielleicht fand er hier endlich seine wahre Bestimmung …
In seinen eigenen Gedanken schwelgend, bemerkte er zunächst gar nicht, wie die Zeit verstrich und wie sich allmählich Unruhe unter den Wartenden breit machte. Denn inzwischen waren längst alle anwesend – alle außer einem: Der Regisseur fehlte.
Paul zerbrach sich darüber nicht den Kopf, doch als aus der akademischen Viertelstunde 45 Minuten geworden waren und die Ersten Anstalten machten, unverrichteter Dinge wieder zu gehen, wurde auch Paul unruhig.
Er wartete ab, bis genau eine Stunde um war. Dann machte er sich auf die Suche nach Ricky Haas. Im Sekretariat wusste niemand etwas über den Verbleib des Regisseurs. Weder hatte er sich abgemeldet noch eine Nachricht hinterlassen. Fehlanzeige auch in der Kantine, wo man ja eigentlich immer jemanden traf, der einem weiterhelfen konnte. Haas war doch nicht etwa auch …?
Als Paul sicher war, dass sich Haas nicht im Opernhaus aufhielt, entschloss er sich aus einem Bauchgefühl heraus, ihn zu Hause aufzusuchen. Paul wusste ja bereits, dass er in der Nähe wohnte.
Das Mehrfamilienhaus in der Karl-Bröger-Straße machte einen freundlichen, einladenden Eindruck. Hellblau verputzte Front, hohe Fenster,
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