Das Phantom im Opernhaus
Carmen? Die geben Sie doch beim Opernball, nicht wahr?«
»Ja. Um die Carmen zu singen, muss man vor allem Leichtigkeit in der Stimme haben. Natürlich ist die Partie anspruchsvoll. Man muss seine Stimme genau kontrollieren können, um sie gut zu interpretieren. Am Ende stehen ganz einfache Melodien, die einen aber unmittelbar ins Herz treffen.«
Paul konnte nicht anders, als zu fragen: »Ins Herz treffen – das können nicht nur Melodien, oder?«
Irenas Blick verfinsterte sich. »Fangen Sie nun doch wieder damit an? Ich habe es kommen sehen!« Sie rückte ein Stück von ihm ab. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Natürlich ist es mir nicht verborgen geblieben, was Norbert hinter meinem Rücken getrieben hat. Aber bin ich etwa die einzige Frau, der so etwas je passiert ist? Und auch wenn er nicht treu war, geht mir sein Tod doch sehr nahe. Ich versuche, meinen Schmerz durch meine Arbeit zu kompensieren. Aber das gelingt mir nur, wenn nicht Menschen wie Sie ihn ständig wieder aufwühlen.«
»Die Musik gibt Ihnen also Kraft und hilft Ihnen, Wunden zu heilen«, stellte Paul mit ruhiger Stimme fest, um die Wogen wieder zu glätten. »Seit wann singen Sie denn schon? Von Kindesbeinen an?«
Irena strich sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ja, ich glaube, ich habe schon als Baby damit angefangen und meinen Eltern den letzten Nerv geraubt. Schauen Sie, als ich 13 war, wollte mein Vater von mir wissen, was ich einmal werden will. Mit 13! Da will man doch gar nichts. Das war viel zu früh. Ich wusste nur, dass ich in der Musik sein wollte. Sehr zu seinem Leidwesen. Sobald ich es mir leisten konnte, nahm ich Klavierstunden. Später studierte ich so vor mich hin und merkte irgendwann, dass ich als Sängerin talentiert bin. Dann habe ich alles daran gesetzt, meine Leidenschaft zum Beruf zu machen.«
»Was Ihnen mit Bravour gelungen ist! Ihre Eltern müssen stolz auf Sie sein. Besuchen sie oft Ihre Vorstellungen oder wohnen sie zu weit weg?«
Eine plötzliche Traurigkeit ergriff Irena, als sie leise antwortete: »Sie wohnen nicht weit entfernt. Ganz in der Nähe, in Hessdorf, ein Katzensprung. Aber das, was ich mache, ist nichts für sie.«
Paul wollte Irena nicht bedrängen und verzichtete darauf, hier weiter nachzubohren. Das Bild des lila Schals, das er sich ausgedruckt hatte, knisterte in seiner Jackentasche; er ließ es dort. Das Gespräch mit der Mezzosopranistin, Katinkas Verdächtiger Nummer eins, endete für Paul mit dem sicheren Gefühl, dass er dieser Frau glaubte und dass er ihr helfen wollte, soweit es in seiner Macht stand. Ihm fehlte es aber momentan noch an einer Idee, wie er das anstellen sollte.
22
Als er nach Hause ging, um dort die Zeit bis zur nächsten Fotoprobe am Nachmittag totzuschlagen, ließ ihn das Gespräch mit Irena nicht los. Das zerrüttete Verhältnis zwischen ihr und Norbert Baumann, das durch dessen Seitensprünge so schwer belastet worden war, bewegte Paul zutiefst. Erneut stellte er sich die Frage, warum Irena die Demütigungen durch ihren Partner über einen so langen Zeitraum hinweg geduldet und so gleichmütig oder doch zumindest klaglos ertragen hatte. Eine seltsame Beziehung.
Wie froh konnte Paul sein, dass er an Katinkas Seite so viel Glück hatte. Auch in ihrer Partnerschaft herrschte natürlich nicht nur eitel Sonnenschein. Sie mussten sich erst zusammenraufen, sich aneinander herantasten, die Eigenarten des anderen ausloten und lernen, damit zurechtzukommen. Doch nun – nach den ersten fünf Jahren ihrer Liaison – fühlten sich beide sicher und vertrauten einander. Paul war zuversichtlich, mit Katinka eine Ehe einzugehen, die von vornherein von einer gewissen Reife und Stabilität geprägt war und nicht allein auf dem Feuer der Leidenschaft aufbaute.
Bei dem Stichwort »Reife« kamen ihm die Ratschläge seiner Mutter in den Sinn und ihre Bedenken, ob man im Alter von Katinka und Paul noch Kinder in die Welt setzen sollte. Kam Hertha je der Gedanke, dass sie ihren Sohn mit derartigen Äußerungen vor den Kopf stieß? Wohl kaum. Aber sie meinte es gut und stand sich mit ihrer schroffen Unbeholfenheit in Erziehungsfragen nur selbst im Weg – seit über 40 Jahren. Paul wusste das und nahm ihr diese Art Einmischung in sein Leben deshalb nicht übel. Zumindest nicht oft. Tja, seufzte er, die liebe Familie! Als Einzelkind hat man es nicht leicht.
Der Gedanke an Hertha veranlasste ihn dazu, seine Tagesplanung kurzfristig umzustellen. Statt bis zum Nachmittag zu
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