Das Phantom von Manhattan - Roman
von einem kleinen Bauernhof außerhalb der Kleinstadt Mullingar. Mein Vater hat von früh bis abends auf dem Feld geschuftet. Wir sind neun Kinder gewesen; ich bin der zweitälteste Sohn, und wir haben hauptsächlich von Kartoffeln und Rüben von den Feldern und von der Milch unserer beiden Kühe gelebt.«
»Aber Sie sind zur Schule gegangen, Pater Joe?«
»Natürlich bin ich das. Irland mag arm sein, aber dort gibt es massenhaft Heilige und Gelehrte, Dichter und Soldaten - und jetzt auch ein paar Priester. Den Iren geht es um Gottesfurcht und Bildung, in dieser Reihenfolge. Also haben wir alle die Dorfschule besucht, die von den Patres geführt wurde. Drei Meilen Schulweg mit bloßen Füßen und bei jedem Wetter. An Sommerabenden und allen Feiertagen haben wir unserem Dad auf der Farm geholfen. Danach Hausaufgaben beim Schein einer einzigen Kerze, bis wir alle eingeschlafen sind: fünf von uns in einer Koje, und die vier Kleinen mit im Bett unserer Eltern.«
» Mon dieu , Sie haben keine zehn Schlafzimmer gehabt?«
»Hör zu, junger Mann, dein Zimmer im Château ist größer, als unser ganzer Hof gewesen ist. Du hast es besser, als du weißt.«
»Dann haben Sie’s weit gebracht, Pater Joe.«
»Oh, das habe ich, und ich frage mich täglich, warum der Herr es so gut mit mir gemeint hat.«
»Sie haben also trotzdem eine Erziehung genossen.«
»Ja - und eine gute dazu. Sie ist uns mit Geduld, Liebe und dem Rohrstock eingetrichtert worden. Lesen und Schreiben, Rechnen und Latein, Geschichte, aber nicht viel Geographie, weil die Patres nie irgendwo gewesen waren und nicht damit rechneten, einmal in die Welt hinauszukommen.«
»Warum haben Sie sich entschieden, Priester zu werden, Pater Joe?«
»Nun, wir sind jeden Morgen vor der Schule in die Messe gegangen - und sonntags natürlich mit der Familie. Ich bin Ministrant gewesen, und etwas an der Messe hat mich zutiefst beeindruckt. Ich habe zu dem großen hölzernen Gekreuzigten über dem Altar aufgesehen und mir gesagt, wenn er das für mich getan hatte, sollte ich vielleicht versuchen, ihm nach besten Kräften zu dienen. Ich bin in der Schule gut gewesen, und als ich sie verlassen sollte, habe ich gefragt, ob es eine Möglichkeit gebe, in ein auswärtiges Priesterseminar einzutreten.
Ich wußte, daß mein älterer Bruder eines Tages den Hof übernehmen und dann um jeden froh sein würde, den er nicht mit durchfüttern mußte. Und ich hatte Glück. Ich wurde mit einer Empfehlung von Pater Gabriel, dem Leiter unserer Schule, zu einem Vorstellungsgespräch nach Mullingar geschickt und fürs Priesterseminar in Kildare angenommen. Meilen von zu Hause entfernt. Ein richtiges Abenteuer.«
»Aber jetzt sind Sie mit uns in Paris und London, Sankt Petersburg und Berlin unterwegs.«
»Ja, aber das ist jetzt. Damals, mit fünfzehn Jahren, ist die Postkutsche nach Kildare ein großes Abenteuer gewesen. Ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden, bin angenommen worden und habe viele Jahre studiert, bis es Zeit für die Priesterweihe war. Mein Jahrgang ist ziemlich groß gewesen, und der Kardinal ist persönlich aus Dublin gekommen, um uns alle zu weihen. Danach wollte ich mein Leben eigentlich als bescheidener Pfarrer irgendwo im Westen verbringen - vielleicht in einer abgeschiedenen kleinen Gemeinde in Connaught. Und ich hätte dieses Amt glücklich und dankbar akzeptiert.
Aber der Seminardirektor hat mich noch einmal rufen lassen. In seinem Büro saß ein Mann, den ich nicht kannte. Es war Bischof Delaney aus Clontarf, der einen Privatsekretär brauchte. Da man wußte, daß ich gut und flüssig schrieb, wurde dieser Posten mir angeboten. Nun, das war fast zu schön, um wahr zu sein. Ich war einundzwanzig und wurde eingeladen, in einem Bischofspalast zu leben und der Sekretär eines Mannes zu sein, der für eine ganze Diözese verantwortlich war.
Ich ging also zu Bischof Delaney, einem guten und frommen Mann, und lernte während meiner fünf Jahre in Clontarf viel dazu.«
»Warum sind Sie nicht dortgeblieben, Pater Joe?«
»Das wollte ich eigentlich - zumindest bis die Kirche eine andere Arbeit für mich gefunden hatte. Vielleicht eine Pfarrei in Dublin, Cork oder Waterford.
Aber dann ergab sich ein weiterer Zufall. Vor zehn Jahren kam der päpstliche Nuntius, der Gesandte des Papstes in Großbritannien, aus London herüber, um die irischen Provinzen zu besuchen, und verbrachte drei Tage in Clontarf. Er reiste mit großem Gefolge, dieser Kardinal Massini, zu dem auch
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