Das Phantom von Manhattan - Roman
Ereignis? Habt ihr heute morgen den Bericht im American gelesen? Freut mich für dich, Harry, wenigstens liest hier einer’ne anständige Zeitung, auch wenn du bei der Post arbeitest.
Na ja, ich gebe zu, daß das nicht wirklich mein Job gewesen ist. Unser Spezialist für Schiffe ist dort gewesen,
um über alles zu berichten. Ich hatte vormittags keinen Auftrag, bin aber trotzdem hingegangen und … Mann, war das eine Chance! Ihr Jungs hättet euren freien Morgen wahrscheinlich im Bett verbracht. Das verstehe ich unter Energie: Man muß unterwegs und zur Stelle sein, wenn einem das Glück winkt. Wo war ich stehengeblieben? Ah, richtig.
Jemand hatte mir erzählt, daß das französische Passagierschiff »Lorraine« an Pier 42 anlegt und diese französische Sängerin an Bord hat, die mir unbekannt war, in der Opernwelt aber eine ganz große Nummer sein soll. Madame Christine de Chagny. Na ja, ich bin noch nie in der Oper gewesen, aber ich habe mir gedacht: Warum eigentlich nicht? Sie ist ein großer Star, niemand kommt für ein Interview an sie ran, also gehe ich einfach mal hin und seh’ sie mir an. Außerdem hätte ich letztes Mal, als ich einem Frenchie aus der Patsche zu helfen versucht habe, beinahe einen großen Coup gelandet, was mir auch geglückt wäre, wenn unser Lokalredakteur nicht ein Schlemihl erster Klasse wäre. Habe ich euch davon eigentlich schon erzählt? Von meinem unheimlichen Erlebnis im E.M. Tower? Also, hört gut zu, diesmal wird’s noch unheimlicher. Würde ich lügen? Ist der Mufti ein Moslem?
Ich bin also kurz nach neun zur Pier runtergegangen. Die »Lorraine« hatte mit dem Heck voraus angelegt. Also noch reichlich Zeit, weil diese Anlegemanöver immer ewig dauern. Ich winke den Bullen mit meinem Presseausweis und schlendere zum Pressebereich hinüber. Die Sache verspricht interessant
zu werden. Offenbar soll ein großer Empfang stattfinden - Oberbürgermeister McClellan, Stadtväter, Tammany Hall, reichlich Prominenz. Ich weiß, daß für die Berichterstattung über den ganzen Zirkus unser Hafenkorrespondent zuständig ist, den ich nach einiger Zeit an einem Fenster im ersten Stock mit besserer Aussicht entdecke.
Nun, als erstes werden die Nationalhymnen gespielt, dann kommt diese französische Lady die Pier entlang, und sie winkt der Menge zu, und die Leute finden sie wunderbar. Als nächstes die Reden, erst der Oberbürgermeister, dann die Lady, und danach verläßt sie das Podium, um in ihren Zweispänner zu steigen. Aber da gibt’s ein Problem. Zwischen ihr und der Equipage liegt eine Pfütze voller Schneematsch, die der rote Teppich nicht mehr bedeckt.
Das hättet ihr sehen sollen, Jungs. Der Kutscher hat den Schlag so weit aufgerissen wie der Oberbürgermeister seine Klappe. McClellan und der Opernmann Oscar Hammerstein, die rechts und links von der französischen Sängerin gehen, wissen nicht, was sie tun sollen.
In diesem Augenblick passiert etwas Seltsames. Ich werde von hinten leicht angerempelt, und dann legt mir jemand etwas über meinen Arm, der auf der Absperrung liegt. Wer immer das auch gewesen sein mag - er ist blitzschnell wieder verschwunden. Ich habe ihn nicht bewußt wahrgenommen. Aber über meinem Arm liegt ein altes Abendcape, modrig und zerschlissen, bestimmt kein Kleidungsstück, das man - falls überhaupt - um diese Tageszeit trägt oder dabeihat.
Dann fällt mir ein, daß ich als Junge ein farbiges Bilderbuch mit dem Titel Heroes Down The Ages geschenkt bekommen habe. Eine der Geschichten hat von einem Kerl namens Raleigh gehandelt - den müssen sie wohl nach der Hauptstadt von North Carolina benannt haben. Jedenfalls hat er einmal sein Cape abgenommen und über eine Pfütze vor Königin Elisabeth von England gebreitet und dadurch Karriere gemacht.
Also denke ich: »Was Raleigh konnte, kann auch Mrs. Blooms kleiner Junge«, setze über die Absperrung des Pressebereichs und breite schwungvoll das Cape vor dieser Vicomtesse auf dem Schneematsch aus. Und ihr gefällt’s! Sie tritt ohne zu zögern darauf und steigt in ihre Equipage. Als ich das durchnäßte Cape aufhebe, sehe ich, daß sie mir aus dem offenen Fenster zulächelt. Also denke ich mir: »Wer wagt...«, und trete an die Kutsche.
»Mylady«, sage ich, so muß man diese Leute nämlich anreden, »es heißt immer, es sei ganz unmöglich, ein Exklusivinterview von Ihnen zu bekommen. Ist das wirklich wahr?«
Das braucht man in diesem Beruf, Jungs: Spürsinn, Charme… oh, und natürlich gutes
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