Das Phantom von Manhattan - Roman
Nellie im Winter über den Atlantik zu locken, um hier zu singen.
Mit einer in unserer Gesellschaft seltener werdenden Geste aus der Alten Welt verbeugte er sich und küßte ihre ausgestreckte Hand. Darauf waren ein lautes »Ooooooh!« und ein paar Pfiffe von den auf die umstehenden Kräne gekletterten Arbeitern zu hören, die eher fröhlich als spöttisch gemeint waren, und Applaus begrüßte diese Geste - sie kam aus den Reihen der rund ums Podium gruppierten Zylinderträger.
Als Mme. de Chagny den roten Teppich erreichte, schritt sie an Mr. Hammersteins Arm die Pier entlang aufs Podium zu. Mit einem Charme, mit dem sie sich erfolgreich um Oberbürgermeister McClellans Posten bewerben könnte, winkte sie mit strahlendem Lächeln den auf Frachtkisten stehenden und an Kräne geklammerten Hafenarbeitern zu. Sie reagierten darauf mit noch mehr Pfiffen - diesmal als Zeichen höchster Anerkennung. Da keiner von ihnen sie jemals singen hören wird, kam diese Geste äußerst gut an.
Durch ein starkes Fernglas konnte ich die Lady von meinem Fenster im ersten Stock aus nah heranholen. Sie ist zweiunddreißig Jahre alt, sehr schön, schlank und graziös. Viele Opernfreunde haben sich schon gefragt, wie eine so herrliche Stimme in einem so zierlichen Körper stecken kann. Von den Schultern bis zu den Knöcheln war sie - denn trotz der Sonne lag die Temperatur einige Grade unter dem Gefrierpunkt - in
einen taillierten Mantel aus burgunderrotem Samt mit Kordelverschlüssen und Nerzbesatz an Kragen, Manschetten und Saum gehüllt, zu dem sie eine Mütze im Kosakenstil aus dem gleichen Pelz trug. Ihr Haar war zu einem straffen Nackenknoten geschlungen. Die modebewußten Damen unserer Stadt werden sich anstrengen müssen, um mithalten zu können, wenn diese Lady durch die Peacock Alley flaniert.
Hinter ihr konnte ich ihr bemerkenswert kleines und recht unauffälliges Gefolge erkennen: Mlle. Giry, ihre Kammerzofe und ehemalige Kollegin, zwei Sekretäre, die ihre Korrespondenz erledigen und ihre Reisen vorbereiten, ihr Sohn Pierre, ein hübsch aussehender Zwölfjähriger, und sein mitreisender Hauslehrer, ein irischer Geistlicher in schwarzer Soutane und mit breitkrempigem Hut, selbst noch jugendlich und mit breitem, freundlichem Lächeln.
Sobald die Lady auf dem Podium stand, schüttelte Oberbürgermeister McClellan ihr nach amerikanischer Art die Hand und begann seine offizielle Begrüßungsrede, die er in zehn Tagen für die australische Dame Nellie Melba wird wiederholen müssen. Aber falls jemand befürchtet haben sollte, Mme. de Chagny werde das Gesagte nicht verstehen, wurden diese Befürchtungen bald zerstreut. Sie brauchte keine Übersetzung, und als der Oberbürgermeister geendet hatte, trat sie an die Brüstung des Podiums und dankte allen sehr liebenswürdig in fließendem Englisch mit entzückendem französischem Akzent.
Was sie sagte, war überraschend und schmeichelhaft
zugleich. Nachdem sie Oberbürgermeister und City of New York für den freundlichen Empfang gedankt hatte, bestätigte sie, sie sei für nur eine Woche herübergekommen, um zur Eröffnung des Manhattan Opera House zu singen, und das fragliche Werk sei eine ganz neue, noch nie aufgeführte Oper eines amerikanischen Komponisten.
Dann gab sie bisher unbekannte Einzelheiten preis. Die im Amerikanischen Bürgerkrieg spielende Oper mit dem Titel The Angel of Shiloh handle von dem Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, in den eine Südstaatenschönheit durch ihre Liebe zu einem Offizier der Nordstaatenarmee gerate. Sie werde die Rolle der Eugenie Delarue singen. Sie fügte hinzu, sie habe Musik und Libretto in Paris in handschriftlicher Form gesehen, und allein die Schönheit dieses Werks habe sie dazu bewogen, andere Termine abzusagen und den Atlantik zu überqueren. Das war ein klarer Hinweis darauf, Geld habe bei ihrer Entscheidung keine Rolle gespielt - ein Seitenhieb gegen Dame Nellie Melba.
Die Hafenarbeiter auf den Kränen entlang der Pier, die geschwiegen hatten, während sie sprach, brachen nochmals in laute Jubelrufe aus, in die sich zahlreiche Pfiffe mischten, die ungehörig gewirkt hätten, wenn sie nicht so offenbar bewundernd gewesen wären. Sie winkte ihnen erneut zu und wandte sich dann ab, um auf der anderen Seite des Podiums in ihre bereitstehende Equipage zu steigen.
An diesem Punkt der bis dahin sorgfältig inszenierten und ohne Störung verlaufenen Zeremonie ereigneten
sich zwei Vorfälle, die ganz entschieden nicht so geplant
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