Das Phantom von Manhattan - Roman
schlug die Tür zu, als der Kutscher bereits anfuhr. Das war offenbar eine Privatkutsche, denn Droschken dieser Art gibt es auf Coney Island nicht.
Aber bevor er den Wagen erreicht hatte, mußte er an zwei Leuten vorbei. Dem Spiegelkabinett am nächsten stand der junge Reporter, und als die Gestalt im Gehrock an ihm vorbeijagte, rief sie ihm etwas zu,
das ich nicht verstand, weil der Seewind die Worte mit sich forttrug. Der Reporter sah überrascht auf, machte aber keine Anstalten, den Mann aufzuhalten.
Fast schon am Ausgang, tauchte die Gestalt des Priesters auf, der den Jungen zur Kutsche zurückgebracht, ihn im Wagen gelassen hatte und jetzt zurückging, um Madame zu suchen. Ich beobachtete, wie Malta eine Sekunde lang wie angewurzelt stehenblieb, den Priester anstarrte, der seinen Blick erwiderte, und dann zu seiner Kutsche weiterhastete.
Inzwischen war ich mit den Nerven am Ende. Die eigenartige Suche nach einer Melodie, die keiner unserer Spielzeugaffen spielen konnte, das merkwürdige Benehmen des Mannes, der sich Malta nannte, das Verhör, das er mit dem Jungen angestellt hatte, die haßerfüllten Blicke zwischen Malta und dem katholischen Priester, dann die Katastrophe im Spiegelkabinett, dessen Hebel mir nicht gehorcht hatten, die schrecklichen Geständnisse der Primadonna und eines Mannes, der allem Anschein nach ihr einstiger Liebhaber und der Vater ihres Kindes war, und schließlich die Entdeckung Maltas, der die beiden belauscht hatte … das alles war einfach zuviel. In meiner Verwirrung vergaß ich völlig, daß sich die arme Mme. de Chagny noch immer in dem Labyrinth aus Spiegelwänden befand.
Als mir das einfiel, rannte ich zurück, um sie zu befreien. Auf wunderbare Weise funktionierten alle Hebel wieder. Sie sah leichenblaß aus und war schweigsam, als sie herauskam. Aber sie bedankte sich sehr höflich für meine Mühe, gab mir ein großzügiges
Trinkgeld und bestieg zusammen mit dem Reporter, dem Priester und ihrem Sohn die Droschke. Ich begleitete sie noch bis zum Ausgang.
Als ich noch einmal zum Spiegelkabinett zurückkehrte, bekam ich den Schock meines Lebens. Im Windschatten des Gebäudes stand ein Mann und starrte dem Wagen nach. Ich bog um die Ecke des Hauses und sah ihn plötzlich vor mir. Jeder Zweifel war ausgeschlossen; der schwarze Umhang verriet ihn. Er war der zweite Beteiligte an den unheimlichen Ereignissen im Labyrinth, und sein Gesicht ließ mir das Blut in den Adern gefrieren: ein zerstörtes Gesicht, zu drei Vierteln von einer Maske bedeckt, und hinter dieser Maske brannten Augen, die vor Zorn funkelten. Dieser Mann, dessen Pläne durchkreuzt worden waren, schien es nicht gewöhnt zu sein, auf Widerstand zu stoßen, und war deshalb gefährlich. Er hatte mich nicht kommen hören, denn er stieß leise knurrend einige Worte hervor: »Fünf Jahre, fünf Jahre. Niemals. Er ist mein, und ich hole ihn mir.« Dann wandte er sich ab und verschwand zwischen zwei Verkaufsbuden und einem verschalten Karussell. Im Zaun entlang der Surf Avenue entdeckte ich später eine Stelle, an der drei Zaunpfähle fehlten. Ich habe den Maskierten nie wiedergesehen, auch den Lauscher nicht.
Später überlegte ich, ob ich verpflichtet sei, etwas zu unternehmen. Sollte ich die Vicomtesse warnen, der seltsame Mann habe anscheinend nicht die Absicht, fünf Jahre lang auf seinen Sohn zu warten? Oder würde er sich beruhigen, sobald sein Zorn sich gelegt
hatte? Ich war Zeuge einer Familientragödie, die bestimmt irgendein glückliches Ende finden würde. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Aber ich habe nicht umsonst keltisches Blut in den Adern, und während ich alle diese Dinge aufschreibe, bedrückt mich ein Gefühl schrecklicher Vorahnungen.
13
DAS GEBET DES JOSEPH KILFOYLE
St. Patrick’s Cathedral, New York City,
2. Dezember 1906
H err, sei mir gnädig, Christus, sei mir gnädig. Viele Male habe ich Dich schon angerufen. Öfter als ich mich entsinnen kann. In der Hitze des Tages und im Dunkel der Nacht. Beim Hochamt in Deinem Haus und in der Zurückgezogenheit meines Zimmers. Manchmal habe ich sogar geglaubt, Du würdest mir antworten, habe ich das Gefühl gehabt, Deine Stimme zu hören, habe geglaubt, Deine Führung zu spüren. Ist das alles nur Torheit, Selbsttäuschung gewesen? Sprechen wir im Gebet wirklich mit Dir? Oder horchen wir auf uns selbst?
Vergib mir meine Zweifel, Herr. Ich strebe so eifrig nach wahrem Glauben. Hör mich jetzt an, ich bitte Dich. Denn
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