Das Phantom von Manhattan - Roman
seiner gequälten Seele hat er einmal geliebt und könnte es wieder.«
»Dann besteht also die Möglichkeit, ihn noch zu gewinnen?«
»Joseph, jeder Mensch, der in der Lage ist, reine Liebe für andere zu empfinden, kann erlöst werden.«
»Aber wie Darius liebt dieser Erik nur den Reichtum, sich selbst und die Frau eines anderen. Herr, das verstehe ich nicht.«
»Du irrst dich, Joseph. Er schätzt den Reichtum, er haßt sich selbst, und er liebt eine Frau, von der er weiß, daß er sie nicht bekommen kann. Ich muß jetzt fort.«
»Bleib noch etwas länger bei mir, Herr.«
»Ich kann nicht. Auf dem Balkan wird erbittert
Krieg geführt. Heute nacht erwarte ich viele Seelen in meinem Reich.«
»Wie kann ich dann diesen Schlüssel finden?«
»Das habe ich dir schon gesagt, Joseph. Du mußt Ausschau halten nach einer anderen, einer größeren Liebe.«
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DIE BESPRECHUNG VON GAYLORD SPRIGGS
New York Times,
4. Dezember 1906
M r. Hammersteins mit vielen Vorschußlorbeeren bedachtes neues Manhattan Opera House ist gestern abend mit einer Vorstellung eröffnet worden, die sich nur als Triumph beschreiben läßt. Wäre in unserem Land jemals wieder ein Bürgerkrieg ausgebrochen, dann gestern beim Kampf um die Sitzplätze in der Oper. Welche Summen einige der Vertreter der New Yorker Finanz- und Kulturwelt für Logen und auch Parkettplätze bezahlt haben, läßt sich nur vermuten, aber diese müssen die offiziellen Eintrittspreise weit überstiegen haben.
Das Manhattan, wie wir dieses Opernhaus jetzt nennen müssen, um es von der Metropolitan auf der anderen Seite der Stadt zu unterscheiden, ist ein wahrhaft prächtiges Gebäude, reich ausgeschmückt und mit einem Foyer, das die ziemlich beengten Räumlichkeiten, die dem Publikum in der Met zur Verfügung stehen, weit hinter sich läßt. Dort habe ich
in der halben Stunde vor Beginn der Vorstellung die Träger großer, klangvoller Namen wie Schulkinder durcheinanderlaufen sehen, während die glücklichen Auserwählten zu ihren Logen geführt wurden.
Zusammengeströmt waren die Mellons, Vanderbilts, Rockefellers, Goulds, Whitneys und die Pierpont Morgans. In ihrer Mitte fungierte als unser aller Gastgeber der Mann, der ein riesiges Vermögen und schier grenzenlose Tatkraft und Energie investiert hat, um das Manhattan allen Widerständen zum Trotz zu errichten: der Zigarrenbaron Oscar Hammerstein. Es geht noch immer das Gerücht, daß hinter Mr. H. ein weiterer, noch vermögenderer Industriemagnat - der Phantomfinanzier, der sich noch niemals gezeigt hat - stehe. Falls er tatsächlich existieren sollte, war er nirgends zu sehen.
Die Pracht der weiten Säulenhalle und der Luxus des Foyers waren ebenso beeindruckend wie die goldene, karmesinrote und pflaumenfarbene Ausstattung des überraschend kleinen und intimen Zuschauerraums. Und was die Qualität der neuen Oper und des Gesangs betrifft, erreichten beide eine künstlerisches und emotionales Niveau, wie ich es in den dreißig Jahren meiner Tätigkeit als Kritiker noch nie erlebt habe.
Leser dieser bescheidenen Kolumne werden sich daran erinnern, daß Mr. Hammerstein erst vor sieben Wochen die außergewöhnliche Entscheidung getroffen hat, sein Haus nicht, wie vorgesehen, mit Bellinis Meisterwerk I Puritani zu eröffnen, sondern statt dessen eine völlig neue, moderne Oper aufzuführen, die
ein unbekannter - und noch immer anonymer - amerikanischer Komponist geschrieben hat. Hat sich das Risiko gelohnt? Tausendprozentig.
Erstens hat uns The Angel of Shiloh den Auftritt der Pariser Primadonna Christine de Chagny beschert, einer Schönheit mit einer Stimme, die gestern abend jede andere übertraf, die ich in den dreißig Jahren meiner Tätigkeit gehört habe. Zweitens ist das Werk selbst ein Meisterstück voller Schlichtheit und Gefühl, das niemanden ungerührt ließ.
Die Handlung spielt im Bürgerkrieg vor vierzig Jahren und betrifft deshalb jeden Amerikaner. Im ersten Akt begegnet uns der elegante junge Anwalt Miles Regan aus Connecticut, der Eugenie Delarue, die schöne Tochter eines reichen Plantagenbesitzers in Virginia, innig liebt. Erstere Rolle wurde von dem aufstrebenden amerikanischen Tenor David Melrose gesungen, bis etwas höchst Merkwürdiges passierte - aber davon später mehr. Das Paar gelobt sich Treue und wechselt goldene Ringe. Mme. de Chagny glänzte als Südstaatenschönheit, und ihre mädchenhafte Freude über den Heiratsantrag des Mannes, den sie liebt, fand ihren
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