Das Phantom von Manhattan - Roman
ich bin verwirrt und angsterfüllt. Hier spricht nicht der Theologe, sondern der irische Bauernjunge, als der ich zur Welt gekommen bin. Bitte erhöre mich und hilf mir.«
»Ich bin hier, Joseph. Was stört deine Seelenruhe?«
»Herr, ich glaube, daß ich zum erstenmal wirklich Angst habe. Ich fürchte mich, aber ich weiß nicht, warum.«
»Angst? Das ist etwas, das ich aus eigener Erfahrung kenne.«
»Du, Herr? Das kann nicht sein.«
»Im Gegenteil. Was glaubst du, habe ich empfunden, als die Folterknechte mir die Handgelenke über dem Kopf an den Geißelring in der Tempelmauer gebunden haben?«
»Ich hätte nie gedacht, daß Du Angst haben könntest.«
»Ich war damals ein Mann, Joseph, mit allen Fehlern und Schwächen eines Menschen. Und ein Mann kann große Angst empfinden. Als sie mir die Geißel mit den Lederriemen, in die Eisen- und Bleistücke eingeknotet waren, gezeigt und mir erklärt haben, was sie bewirken würde, habe ich vor Angst geweint.«
»So habe ich das nie betrachtet, Herr. Das ist nie berichtet worden.«
»Du bist auch der einzige, der das erfährt. Wovor fürchtest du dich?«
»Ich habe das Gefühl, daß in dieser beängstigenden großen Stadt um mich herum etwas geschieht, das ich nicht begreifen kann.«
»Dann fühle ich mit dir. Die Angst vor etwas, das man versteht, ist schlimm genug, aber sie hat ihre Grenzen. Diese andere Angst ist schlimmer. Worum bittest du mich?«
»Ich brauche Deine Standhaftigkeit. Deine Stärke.«
»Die besitzt du bereits, Joseph. Du hast sie gewonnen, als du mir Treue geschworen und das Priestergewand angelegt hast.«
»Dann bin ich ihrer gewiß nicht würdig, Herr, denn sie fliehen mich jetzt. Ich fürchte, daß Du schlecht gewählt hast mit dem Bauernjungen aus Mullingar.«
»Tatsächlich hast du mich erwählt. Aber lassen wir das. Hast du mich seither enttäuscht?«
»Natürlich habe ich gesündigt.«
»Natürlich. Wer tut das nicht? Du hast Christine de Chagny begehrt.«
»Sie ist eine schöne Frau, Herr, und ich bin ein Mann.«
»Ich weiß. Ich war selbst einer. Das kann sehr schwer sein. Du hast gebeichtet und Vergebung erlangt?«
»Ja.«
»Nun, Gedanken sind Gedanken. Hast du mehr getan?«
»Nein, Herr. Nur in Gedanken.«
»Gut, vielleicht kann ich meinem Bauernjungen doch noch etwas länger mein Vertrauen schenken. Was ist mit deiner unerklärlichen Angst?«
»In dieser Stadt gibt es einen Mann, einen sehr seltsamen Mann. Am Tag unserer Ankunft habe ich vom Kai aus nach oben geschaut und einen Mann beobachtet, der vom Dach eines Lagerhauses herabstarrte. Er trug eine Maske. Gestern sind wir nach Coney Island gefahren: Christine, der kleine Pierre, ein Lokalreporter und ich. Christine ist in dem Spiegelkabinett des Vergnügungsparks gewesen. Am Abend hat sie
mich gebeten, ihr die Beichte abzunehmen, und mir berichtet …«
»Du kannst es mir ruhig erzählen: Ich kenne deine Gedanken. Bitte weiter.«
»… daß sie ihn drinnen getroffen hat. Sie hat ihn beschrieben. Es muß derselbe Mann sein, den sie vor Jahren in Paris gekannt hat, ein grausig entstellter Mensch, der jetzt hier in New York reich und mächtig geworden ist.«
»Ich kenne ihn. Er heißt Erik. Er hat kein leichtes Leben gehabt. Jetzt betet er einen anderen Gott an.«
»Es gibt keine Götter außer Dir, Herr.«
»Hübsche Idee, aber es gibt viele. Von Menschen erschaffene Götter.«
»Und seiner?«
»Er ist ein Knecht Mammons, des Gottes der Habgier und des Goldes.«
»Ich würde ihn Dir sehr gerne zurückbringen.«
»Sehr lobenswert. Und warum?«
»Er scheint ein riesiges Vermögen zu besitzen - Reichtümer, die all unsere Vorstellungen übersteigen.«
»Joseph, du solltest dich um die Seelen kümmern und dich nicht im Goldhandel betätigen. Begehrst du sein Vermögen?«
»Nicht für mich, Herr. Für etwas anderes.«
»Und das wäre?«
»Während meines Aufenthalts hier bin ich nachts durch die Lower East Side gewandert, keine Meile von ebendieser Kathedrale entfernt. Das ist ein Schrekkensort, eine Hölle auf Erden. Dort herrschen Armut,
Verwahrlosung, Schmutz, Gestank und Verbrechen. Kinder werden zur Prostitution gezwungen, Mädchen und Jungen...«
»Höre ich eine Andeutung von Tadel, Joseph, weil ich diese Dinge zulasse?«
»Es steht mir nicht zu, Dich zu tadeln, Herr.«
»Oh, sei nicht zu bescheiden. Das passiert jeden Tag.«
»Aber ich kann’s nicht verstehen.«
»Laß mich versuchen, es dir zu erklären. Ich habe dem Menschen nie
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