Das Phantom von Manhattan - Roman
Frieden lassen? Was willst du von mir?
ER:
Bleib bei mir.
SIE:
Ich kann nicht.
ER:
Bleib bei mir, Christine. Die Zeiten haben sich geändert. Ich kann dir jedes Opernhaus der Welt bieten. Alles, was du dir nur wünschst.
SIE:
Ich kann nicht. Ich liebe Raoul. Du mußt versuchen, das zu akzeptieren. Ich erinnere mich dankbar an alles, was du für mich getan hast. Aber mein Herz gehört einem anderen und wird ihm immer gehören. Kannst du das nicht verstehen? Kannst du das nicht akzeptieren?
An dieser Stelle entstand eine lange Pause, als versuche der abgewiesene Verehrer, seinen Schmerz zu überwinden. Als er weitersprach, lag ein Zittern in seiner Stimme.
ER:
Nun gut, akzeptieren muß ich es. Warum auch nicht? Mein Herz ist schon so oft gebrochen worden. Aber mir geht’s um noch etwas anderes. Laß mir meinen Jungen.
SIE:
Deinen … Jungen...?
ER:
Meinen Sohn, unseren Sohn, Pierre.
Die Frau, die ich weiterhin im Blick hatte - zwanzigfach reflektiert -, wurde leichenblaß und schlug beide Hände vors Gesicht. Sie schwankte mehrere Sekunden lang, und ich fürchtete, sie werde in Ohnmacht fallen. Ich wollte um Hilfe rufen, doch der Hilferuf erstarb mir in der Kehle. Ich wurde stummer, hilfloser Zeuge von Ereignissen, die ich nicht verstand. Schließlich ließ sie die Hände sinken und sprach flüsternd weiter.
SIE:
Wer hat dir das gesagt?
ER:
Madame Giry.
SIE:
Warum, warum nur hat sie das getan?
ER:
Sie hat im Sterben gelegen. Sie wollte mir ihr so lange Jahre gehütetes Geheimnis anvertrauen.
SIE:
Sie hat gelogen.
ER:
Nein. Sie hat Raoul nach der nächtlichen Schießerei ins Krankenhaus gebracht.
SIE:
Er ist ein gütiger und sanfter Mann. Er liebt mich und hat Pierre als seinen eigenen Sohn aufgezogen. Pierre weiß nichts.
ER:
Raoul weiß es. Du weißt es. Ich weiß es. Laß mir meinen Sohn.
SIE:
Ich kann nicht, Erik. Er wird bald dreizehn. In fünf Jahren ist er ein Mann. Dann sage ich’s ihm. Ich gebe dir mein Wort darauf, Erik. An seinem
achtzehnten Geburtstag. Nicht jetzt, das wäre zu früh. Er braucht mich noch. Wenn er’s erfährt, wird er sich entscheiden.
ER:
Du gibst mir dein Wort, Christine? Wenn ich fünf Jahre warte …
SIE:
Dann bekommst du deinen Sohn. In fünf Jahren. Wenn du ihn für dich gewinnen kannst.
ER:
Gut, ich werde warten. Ich habe so lange auf ein bißchen Glück gewartet. Noch fünf Jahre... Ich werde warten.
SIE:
Ich danke dir, Erik. In drei Tagen werde ich wieder für dich singen. Du bist doch da?
ER:
Natürlich. Näher, als du ahnen kannst.
SIE:
Dann werde ich für dich singen, wie ich nie zuvor gesungen habe.
In diesem Augenblick sah ich etwas, das mich beinahe aus meiner Steuerkabine fallen ließ. Irgendwie war es einem weiteren Mann gelungen, ins Spiegelkabinett zu gelangen. Wie er das geschafft hatte, werde ich nie erfahren, aber er war nicht durch die einzige mir bekannte Tür hereingekommen, denn die befand sich genau unter mir und war nicht benutzt worden. Er mußte durch eine Geheimtür hereingeschlüpft sein, von deren Existenz nur der Erbauer des Spiegelkabinetts wissen konnte. Ich glaubte zunächst, ein Spiegelbild des Sprechenden zu sehen, aber dann erinnerte ich mich an das Wehen eines Capes oder Umhangs, und dieser Mann, ebenfalls in Schwarz, trug kein Cape, sondern einen enganliegenden schwarzen Gehrock. Er befand sich zusammengekauert
in einem der inneren Korridore, das Ohr an den winzigen Spalt zwischen zwei Spiegeln gepreßt. Auf der anderen Seite des Spalts lag der innere Spiegelraum, in dem die Dame mit ihrem seltsamen ehemaligen Liebhaber gesprochen hatte.
Er schien meinen Blick auf sich zu spüren, denn er fuhr plötzlich herum, starrte nach allen Seiten und sah dann auf. Der schräge Beobachtungsspiegel zeigte ihn mir und mich ihm. Sein Haar war so schwarz wie sein Gehrock und sein Gesicht so weiß wie sein Hemd. Er war der Halunke, der sich Malta genannt hatte. Zwei glühende Augen fixierten mich eine Sekunde lang, dann setzte er sich in Bewegung und rannte durch die Korridore, die andere so verwirrend fanden. Ich verließ sofort die Kabine, um ihn aufzuhalten, lief ins Freie und hastete um das Gebäude herum. Aber er hatte einen großen Vorsprung, weil er eine Geheimtür benutzt hatte und bereits auf die Ausgänge zueilte. In meinen unförmigen und extralangen Funmasterschuhen konnte ich ihn unmöglich verfolgen.
In der Nähe der Ausgänge stand ein zweiter Wagen, eine geschlossene Kalesche, auf die der Flüchtende zustürmte; er sprang hinein und
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