Das Phantom von Manhattan - Roman
-, gerade rechtzeitig, um in die Bresche zu springen.
Fürs Publikum wäre das normalerweise eine große Enttäuschung gewesen. Aber in diesem Fall müssen alle Götter der Oper auf Mr. Hammerstein herabgelächelt haben. Der im Programm nicht aufgeführte und mir weiterhin unbekannte Ersatzmann verfügte über eine Tenorstimme, die es selbst mit dem großen Signor Bonci aufnehmen konnte.
Da Hauptmann Regan nie wieder kämpfen wird, beschließt
Miss Delarue, ihr Wissen über den Mann mit dem bandagierten Gesicht nicht preiszugeben. Bevor die Planwagen wieder nach Norden rollen, erfährt Oberst Howard, daß der gesuchte Anführer irgendwo verwundet worden ist und sich vermutlich hinter den Linien der Konföderierten aufhält. Steckbriefe, in denen ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt wird, werden überall angeschlagen. Jeder Nordstaatensoldat, der ausgetauscht werden soll, wird mit einer Skizze von Regans Gesicht verglichen. Vergebens, denn Hauptmann Regan hat jetzt kein Gesicht mehr.
Während die nach Norden zu repatriierenden Soldaten nachts auf ihre Abfahrt im Morgengrauen warten, genießen wir ein ganz bezauberndes Zwischenspiel. Oberst Howard, der große Bonci persönlich, wird bei allen Auftritten von einem blutjungen Adjutanten, einem Jungen von nicht mehr als dreizehn Jahren, begleitet. Bisher hat er noch keinen Ton von sich gegeben. Aber als einer der Nordstaatler versucht, seiner Soldatenfiedel eine Melodie zu entlocken, nimmt der Junge ihm wortlos das Instrument aus der Hand und spielt eine wunderschöne Melodie, als hielte er eine Stradivari in Händen. Einer der Verwundeten fragt ihn, ob er die Melodie auch singen könne; daraufhin legt der Junge die Fiedel weg und beglückt uns mit einer Arie in einem Knabensopran von überirdischer Reinheit. Und siehe da, als ich einen Blick ins Programm warf, um seinen Namen zu erfahren, stellte ich fest, daß es Master Pierre de Chagny war, der Sohn der Diva! Nun, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!
In der letzten Szene voll süßem Pathos nehmen Miss Delarue und ihr Verlobter aus dem Norden Abschied voneinander. Mme. de Chagny hatte schon bisher mit einer so klaren Stimme gesungen, wie sie nur Engeln zugeschrieben wird, aber jetzt erhob sie sich zu neuen und unerreichbaren Höhen. Als sie die Arie »Scheiden wir auf ewig?« begann, schien sie ihr ganzes Herz hineinzulegen, und als der unbekannte Ersatzmann ihr den Ring, den sie ihm einst angesteckt, mit den Worten »So nimm denn diesen Reif zurück« wieder gab, sah ich, wie sich die New Yorker Damen mit ihren feinen Batisttüchern verstohlen ein paar Tränen abwischten.
Dies war ein Abend, der in den Herzen und Köpfen aller bleiben wird, die ihn miterlebt haben. Ich kann beschwören, den sonst äußerst disziplinierten Maestro Campanini den Tränen nahe gesehen zu haben, als Mme. de Chagny, allein auf der Bühne und im Schein der Kerzen in dem abgedunkelten Krankenrevier, die Oper mit ihrer Arie »O grausamer Krieg« beschloß.
Es gab stehende Ovationen und siebenunddreißig Vorhänge - und das, bevor ich gehen mußte, um herauszubekommen, was aus dem durch den Halsbalsam indisponierten Mr. Melrose geworden war. Aber er hatte das Haus leider schon verlassen.
Auch wenn das restliche Ensemble und das Orchester unter Signor Campaninis Stabführung alle Erwartungen erfüllte, gebührt das höchste Lob der jungen Dame aus Paris. Sie ist so schön und dermaßen charmant, daß ihr bereits das gesamte Personal des
Waldorf-Astoria zu Füßen liegt. Alle Opernfreunde, die das Glück hatten, gestern abend im Manhattan gewesen zu sein, werden ihr auf ewig verfallen sein.
Wie jammerschade, daß Mme. de Chagny so bald wieder abreisen muß. Sie wird an weiteren fünf Abenden für uns singen und muß dann nach Europa zurückkehren, um vor Weihnachten einer Verpflichtung in Covent Garden nachzukommen. Ihren Platz nimmt Anfang des kommenden Monats Dame Nellie Melba ein, Oscar Hammersteins zweite Trumpfkarte gegenüber seiner New Yorker Konkurrenz. Auch sie ist schon zu Lebzeiten eine Legende, und auch für sie ist dies ihr New Yorker Debüt, aber sie wird ihr Bestes geben müssen, denn wer gestern abend dagewesen ist, wird La Divina niemals vergessen.
Und was ist mit dem Metropolitan? Ich glaube, bei den Mäzenen der Met nicht nur Entzücken über das neue Meisterwerk, sondern auch einige scharfe Blicke beobachtet zu haben, als wollten sie fragen: Was nun? Zwar hat das Manhattan einen kleineren Zuschauerraum, dafür aber das
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