Das Prinzip Uli Hoeneß
befördert den Ball per Scherenschlag aus dem Strafraum, Müller leitet mit dem Kopf weiter zu einem Spanier, und der vertändelt den Ball, als Hoeneß dazwischenspritzt. Reporter Oskar Klose ist wie elektrisiert: »Hoeneß! Hoeneß!! Hoeneß!!! Ein Mann noch, einer ist bei ihm, an dem muss er noch vorüber, der zweite kommt … jetzt legen sie ihn um! … Nein, er macht sie alle fertig!« Ein atemberaubender Querfeldeinlauf über das Feld, bei dem Hoeneß am Ende auch noch den herausgeeilten Reina narrt und den Ball schließlich scharf unter die Latte zieht. Beide Hoeneß-Tore waren gleichsam noch verschönerte Kopien der Treffer von Dresden, mit Kraft und Raffinesse vorgetragene Sololäufe, bei denen die Gegner zu Statisten eines Heldenauftritts schrumpften.
4:0 – eine solche Darbietung in einem solch wichtigen Spiel hatte es bis dahin noch von keiner deutschen Vereinsmannschaft gegeben. Der FC Bayern feierte seinen ersten Sieg im Europapokal der Landesmeister und den trotz aller späteren Erfolge wohl glücklichsten Tag seiner Geschichte. »An diesem Abend war ich richtig stolz auf ihn. Das ist doch schon etwas, der Europapokal«, resümierte Susi Hoeneß, die beim fulminanten 1:0-Treffer ihres Mannes auf der Tribüne vor Begeisterung geschrien hatte wie eine Verrückte. Und ihr Gatte Uli berichtete hernach von dem »Gefühl, das Rad des Lebens anhalten und eine Zeitlang auf derselben Stelle verweilen zu wollen«. Im »Kicker« wurde er gar mit dem größten aller damaligen Stars, mit Johan Cruyff, verglichen. Wenig später referierte der Hochgelobte, dass er vor dem Spiel nie zu träumen gewagt hätte, nach Dresden noch einmal zwei so wichtige und stilistisch so ähnliche Tore zu schießen. »Nämlich Tore im direkten Duell mit dem Torwart. Man sagt mir nach, dass ich in diesen Situationen einen kühlen Kopf und ein waches Auge hätte. Das muss wohl stimmen.«
Als ein Mann, der immer in der Gegenwart lebte und stets tatkräftig nach vorne blickte, entwickelte er wenig Neigung, sich sentimentaler oder analysierender Nachbetrachtung hinzugeben. Uli Hoeneß beschäftigte sich denn auch nur selten mit seinen vergangenen Erfolgen als Fußballspieler. Nur im Fall dieses Spiels sollte er sich ab und an eine Ausnahme genehmigen: Wenn er Lust darauf hatte, sich die wohligste Gänsehaut, die er in seiner Karriere hat erleben dürfen, noch einmal hervorzuzaubern, legte er die Videokassette mit dem Triumph von Brüssel 1974 in den Rekorder.
Der schwierige Weg zum Weltmeistertitel
Der Europapokalsieg der Bayern war gleichsam der Auftakt eines für ganz Fußball-Deutschland herausragenden Jahres. Als Saisonhöhepunkt stand die erste in Deutschland ausgetragene Fußball-Weltmeisterschaft auf dem Programm. Nach dem letzten Test vor der WM am 1. Mai in Hamburg, einem 2:0 gegen Schweden, war Uli Hoeneß in der Presse mit der Schlagzeile gefeiert worden: »Der neue Netzer heißt Hoeneß.« Dieser Vergleich war wohl genauso unpassend wie der frühere mit Haller oder der spätere mit Cruyff, denn es handelte sich um jeweils ganz eigene Typen, deren Spielweisen kaum sinnvoll miteinander verglichen werden konnten. Unglücklich war der Vergleich darüber hinaus deswegen, weil der langmähnige Gladbacher in Hamburg selbst auf dem Platz gestanden hatte. Netzer wurde denn auch nie ein Freund von Hoeneß. Er, der selbst immer den Individualisten herausgekehrt hatte, mokierte sich vor allem über die Egomanie des jungen Bayern-Stürmers. Kurz vor der WM beschimpfte er Hoeneß in der »SZ« als »Banditen«, der wohl glaube, alleine Weltmeister werden zu können.
Viele erwarteten, dass Hoeneß zum großen Star der WM werden könnte, unter ihnen der als »Fußballprofessor« gerühmte Dettmar Cramer, der frühere Assistent von Helmut Schön und jetzige FIFA-Trainer. »Das war sehr unglücklich«, sollte der Gelobte nach der WM äußern, es habe ihm sehr geschadet, derart »von außen hochgejubelt« worden zu sein. Vor dem Anpfiff des Turniers war er freilich noch nicht so klug gewesen und hatte sich nicht gegen solche Vorschusslorbeeren gewehrt. Er war absolut von sich überzeugt und entschlossen, die Erwartungen zu erfüllen. Konditionell, da waren sich alle Beobachter einig, würde er keinerlei Probleme bekommen. Bei einem Belastungstest vor dem Spiel gegen Chile erzielte er mit einer Pulsfrequenz von über 190 den Spitzenwert im deutschen Team. »Er ist der Typ des Zehnkämpfers und hält jegliche Belastung aus«, meinte
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