Das Programm
erzählte Chris ihm nichts davon.
Chris legte auf und sah sich in dem sterilen Hotelzimmer um. Der Gedanke, hier den Abend zu verbringen, erschien ihm wenig verlockend, daher tauschte er Anzug gegen Jeans, griff sich seine Brieftasche und verließ das Hotel. Er hatte Hunger und schlug den Weg zur East Side ein, um die Stätten seiner Vergangenheit zu besichtigen. Er fand eine Bar Ecke 71st Street und 2nd Avenue, die Duncan, Ian und er früher häufig aufgesucht hatten. Dort verbrachte er eine angenehme Stunde mit zwei Glas Bier, einem riesigen Cheeseburger und der Erinnerung an den Sommer vor zehn Jahren in New York.
Er wünschte, dass er Megan damals besser kennen gelernt hätte. In der Rückschau erschien ihm all die Zeit, die er mit Tamara verbracht hatte, als reine Zeitverschwendung. Natürlich wäre nichts passiert, weil er sie Eric niemals hätte abspenstig machen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Aber es war doch ein schöner Gedanke. Bald würde er sie Wiedersehen. Auch das war ein schöner Gedanke.
Er schlug ungefähr die Richtung ein, aus der er gekommen war und befand sich schließlich in einer Seitenstraße in der Nähe seines Hotels. New York im März war kalt, und es begann zu regnen. Die Temperatur lag nur wenig über dem Gefrierpunkt, und die kalten Regentropfen trafen ihn wie Nadeln ins Gesicht. Er hatte Glück gehabt, dass er damals am zweiten Schulungsprogramm des Jahres teilgenommen hatte: Fünf Monate in Dunkelheit, Kälte und Regen wären nicht annähernd so angenehm gewesen. Unter den gegebenen Umständen fiel es ihm schwer, sich die schwüle Hitze und Feuchtigkeit vorzustellen, die damals über New York gelastet hatten. Der Regen wurde heftiger. Er senkte den Kopf, blickte zu Boden und beschleunigte die Schritte. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, hatte er es nun eilig, wieder in die Wärme seines Hotels zurückzukommen, das nur noch einen Block entfernt war.
Plötzlich warf ihn ein heftiger Stoß in den Rücken in einen Hauseingang. Er verlor das Gleichgewicht und krachte gegen eine Metalltür. Als er sich umwenden wollte, fühlte er kalten Stahl an seiner Wange. Die flache Seite einer Messerklinge drückte sein Gesicht gegen die Tür. Er versuchte, den Kopf zu drehen, um einen Blick auf seinen Angreifer zu werfen, aber das Messer schnitt sich schmerzhaft in seine Wange. Er erhaschte lediglich einen Blick auf einen schwarzen Schal, einen Schnurrbart, eine dunkle Brille und einen weichen Hut, unter dessen Krempe langes krauses Haar herausquoll. Der Mann war ein paar Zentimeter kleiner als er, aber kräftig und entschlossen.
»Ganz ruhig«, zischte eine heisere Stimme in sein Ohr. »Und hör gut zu!«
Seine Wange brannte. Er spürte, wie ihm das Blut über den Kiefer lief. Er hielt still.
»Ich sag es dir nur einmal«, wisperte die Stimme in einer guten Imitation von Marlon Brando. »Du hörst jetzt auf, Fragen zu stellen. Du nimmst das nächste Flugzeug nach Hause und vergisst alles, was Lenka betrifft. Alles klar?«
»Alles klar«, sagte Chris mit zusammengebissenen Zähnen.
»Sicher?«
»Sicher.«
»Okay. Ich behalt dich im Auge.« Der Druck des Messers ließ nach, und im gleichen Moment erhielt Chris einen Schlag in die kurzen Rippen. Er krümmte sich, schnappte nach Luft und sah im Umwenden eine dunkle Gestalt davonlaufen. Als er sich umblickte, begegnete er dem erschreckten Blick einer Frau, die die ganze Szene offenen Mundes von der anderen Straßenseite beobachtet hatte. Sie duckte sich und lief in die entgegengesetzte Richtung davon. Andere Zeugen gab es nicht.
Mühsam richtete Chris sich auf und tastete seine Wange ab, die heftig blutete. Den Weg bis zum Eingang des Hotels legte er im Laufschritt zurück.
Die Rezeptionistin erschrak bei seinem Anblick und holte rasch einen Verbandskasten. Sie wollte die Polizei anrufen, aber Chris versicherte, die Verletzung sei nicht schlimm und der Angreifer habe ihn nicht beraubt, man könne die Polizei also aus dem Spiel lassen. Noch immer heftig atmend und etwas wacklig auf den Beinen nahm er den Verbandskasten mit aufs Zimmer.
Er ging direkt ins Badezimmer und hielt sich ein Handtuch gegen die Wange.
Als er in den Spiegel blickte, gefror ihm das Blut in den Adern. Mit Blut geschrieben standen dort die Worte: »Ich habe Lenka umgebracht.«
Er stolperte zurück ins Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Entsetzt sank er aufs Bett und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Er zitterte jetzt am ganzen
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