Das Prometheus Mosaik - Thriller
hängte sie über den Stuhl, dann ging er zum Kühlschrank – sein allabendliches Ritual, dem des alten Fritz im Prückel gar nicht unähnlich, immer wieder dasselbe, tagein, tagaus, seit Jahren schon. Er nahm eine angebrochene Dose Thunfisch heraus; die Hälfte hatte er zu Mittag gegessen, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, der Rest würde sein Abendessen sein. Er stellte die Dose auf den Tisch; einen Teller brauchte er nicht. Den ganzen Tag lang spülte er mehr als genug Teller, da wollte er nicht daheim auch noch seinen eigenen abwaschen müssen.
Ehe er sich setzte, ging er zum Fernseher und schaltete ihn ein. Das Schwarzweiß-Gerät, vom Sperrmüll gerettet, tat immer noch seinen Dienst, wenn man sich an etwas Schnee in jeder Sendung nicht störte.
Mit den Fingern einer Hand fuhr er über das Prospekt mit dem Zeitungsabonnement, und wieder fiel ihm der alte Fritz ein.
Jetzt bin ich mal gespannt …
Sein konnte es natürlich nicht. Nur … war es wirklich unmöglich?
Abwarten …
Das war es, was er über die Jahre gelernt hatte: warten. Worauf auch immer, wusste er nicht. Aber er konnte es.
Ein Blick auf die Uhr. Glück gehabt! Die Spätnachrichten mussten gleich beginnen. Und was auf der ersten Seite der Krone gestanden hatte, würde in den Nachrichten gleich zu Beginn abgehandelt werden.
Moritz erinnerte ihn maunzend an den Apfelstrudel. Max wartete stumm; er gab nie einen Laut von sich, hatte noch nie einen von sich gegeben. Das Reden überließ er seinem Bruder.
Wolff faltete die Folie auseinander und brach einen kleinen Bissen vom lauwarmen Strudel ab. Moritz leckte ihm das Schmankerl vom Finger. Das nächste Häppchen gönnte er Max. Moritz drehte den von einem pelzigen, widerborstigen Kamm gezierten Kopf zur Seite, womit Max sich der fütternden Hand automatisch zuwandte …
Die Nachrichten fingen an.
Die Gabel im Thunfisch, jedoch noch keinen Bissen im Mund, saß Wolff Sekunden später wie vom Schlag getroffen da.
Eine Kindesentführung in Berlin, glücklich zu Ende gegangen, dank eines Mannes, der angeblich über so etwas wie hellseherische Fähigkeiten verfügte.
Aber das war es nicht, was Wolff Atem und Sprache verschlug, ihn den Hunger vergessen und zu Stein, schwer und unbeweglich, werden ließ.
Was ihn traf wie ein Hammer vor die Stirn und eine Faust in den Magen, war das Bild.
In Gedanken kehrte er zurück zu dem Augenblick im Café, als der alte Fritz die Zeitung in den Karton gelegt hatte. Die Titelseite hatte dasselbe Foto gezeigt, das jetzt, wenn auch grießig, auf dem Bildschirm zu sehen war.
Hab ich mich also doch nicht geirrt …
Sinn ergab es trotzdem keinen.
»Rutger …«, flüsterte Wolff, und seine Mundwinkel zuckten abermals, hin- und hergerissen zwischen einem Lächeln und einer Grimasse, die nichts als Verständnislosigkeit ausdrückte.
Ein Zufall …
Natürlich konnte es ein Zufall sein. Eigentlich musste es einer sein.
Nur hatte Wolff schon vor langer Zeit erkannt, dass es Zufälle im Leben nicht gab. Was andere so nannten, war in Wahrheit Schicksal, Bestimmung, vielleicht vorgezeichnet von einer Macht, an die auch sie nie hatten rühren können. Aber vielleicht war auch diese Vermutung nichts weiter als ein Behelf, um zu begreifen, was nicht zu erklären war. Denn wenn er und im Laufe langer, langer Zeit sie eines gelernt hatten, dann war es dies: Es gab Dinge, die den Verstand überstiegen, die so weit jenseits des menschlichen Horizonts lagen, dass sie auf alle Zeit unerreichbar bleiben würden, ganz gleich, zu welchen Höhen der Mensch sich noch aufschwingen und welche Entwicklung er noch nehmen mochte. Denn wäre er einst imstande, all dies zu verstehen, würde er kein Mensch mehr sein …
Wolff schloss die Augen und wartete, bis sich der Sturm hinter seiner Stirn gelegt hatte. Als er sie wieder aufschlug, hatte das Bild auf dem Fernsehschirm längst gewechselt, war das Foto des Hellsehers, dieses jungen Mannes aus Berlin, fort wie ein Traum gleich nach dem Erwachen.
Nur erwies sich dieser Traum als einer von jenen, die einen über das Wachwerden hinaus verfolgten.
Was sollte er tun? Irgendetwas musste er tun! Nun, da dem Anschein nach ein Toter ins Leben zurückgekehrt war.
Endlich gelang Wolffs Lippen ein Lächeln. War es nicht unter anderem das, was sie von Anfang an versucht hatten?
Ganz gleich jedoch, was er tat, es würde schlafende Hunde wecken – und vielleicht mehr als nur diesen einen Toten.
6. April
»Du warst heute
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