Das Prometheus Mosaik - Thriller
wirklich sehr gut, Sophie. Trotzdem, schön üben bis zum nächsten Mal, ja?«
»Mach ich«, versprach das Mädchen, das zu Maries besten Klavierschülerinnen zählte.
»Vielen Dank, Frau Thon«, sagte Sophies Mutter, die zum Abholen ihrer Tochter ein paar Minuten früher als nötig gekommen war, um ihr noch beim Spielen zuhören zu können.
Marie begleitete Mutter und Tochter durch den Flur ihrer Altbauwohnung zur Tür und öffnete sie. Durch das hohe Fenster im Treppenhaus reichte der Blick bis hinüber zum roten Dächerkarree des Weimarer Stadtschlosses.
»Ich habe zu danken, Frau Rothemund. Dass ich mit Sophie arbeiten darf. Mit ihrem Fleiß und ihrer Begabung ist Ihre Tochter eine Ausnahmeerscheinung unter meinen Schülern. Leider.« Marie seufzte, nicht nur deswegen. Die Wehmut war ihr ständiger Begleiter. Sie war tief empfunden – weil ihre vielen Wurzeln eben tief in der Vergangenheit lagen …
»Aber eine gute Schülerin ist nichts ohne eine gute Lehrerin«, meinte Sophies Mutter und reichte Marie zum Abschied die Hand, während Sophie schon mit einem »Tschüs, Frau Thon, bis nächste Woche!« und wippendem Pferdeschwanz die Treppe hinunterhüpfte.
Marie lauschte den hallenden Geräuschen, die das Mädchen auf den Stufen verursachte. Sie kehrte zurück in die Wohnung, in der sie sich immer noch fremd fühlte, so wie in diesem ganzen Dasein, schloss die Tür und sperrte die Echos aus. Nun war es wieder ruhig. Wie es sich für einen »Ruhestand« geziemte. Meistens genoss sie ihn; nur manchmal kribbelte es sie noch in den Fingern, unter der Haut, tief drin. Dann erfasste sie eine Unruhe, die jede Zelle ihres Körpers in eine ganz leise und doch sehr unangenehme Bewegung versetzte, wie um sie aus ihrem Verbund zu lösen.
Meistens half ihr die Musik über solche Phasen hinweg.
Am Klavier sitzend, ließ sie das Kinn auf die Brust sinken und dann den Kopf über die Schulter nach hinten und wieder nach vorne kreisen, um die schmerzenden Nackenmuskeln zu lockern. Dabei knirschten ihre Halswirbel vernehmlich, ein hässlicher Laut, der ihr schon von so manchem Schüler einen seltsamen Blick eingetragen hatte. Ein stechender Schmerz fraß sich von ihrem Genick aus bis ins Steißbein hinunter, die unvergängliche Spätfolge einer alten Wirbelsäulenverletzung. Sie hatte nie vergessen, wann und wo sie sich selbige zugezogen hatte. Und es war mehr als nur der Schmerz aus dieser Verletzung, der heute noch in ihr nagte.
Dunleigh!
Mit einem Finger schlug sie eine Taste an. Ein Ton erklang, auf seine Art so dissonant wie ihre ewigen (ja, es war lange her) Nacken- und Rückenschmerzen.
Gut, dass der Teufel ihn geholt hat …
Dann senkte sie beide Hände und begann eine ihrer Nocturnen zu spielen, deren Klang mehr füllte als nur das Zimmer.
Sie fühlte sich leicht, wie voll Helium, als würde sie gleich davonschweben. Nur wohin hätte sie schweben sollen? Sie war doch angekommen auf dem Platz im Leben, der ihr zugeteilt war. Nachdem sie so vieles und viele gesehen und so vieles getan hatte.
Nichts davon war vergessen, kein Ort, kein Name, kein Opfer. Nicht vergessen, aber verarbeitet. Zu Musik. Alles Geschehene, jeden Einzelnen sah sie darin verewigt. Und war das nicht eine Form von Unsterblichkeit?
Das Spiel weckte stets solche Fragen in ihr – und auch andere: wie die zum Beispiel, ob sie sich die Vergangenheit damit nicht einfach nur schönreden, sich auf eine fast kindliche Art rechtfertigen wollte.
Die Musik barg die Antwort darauf. Sie lautete nein, wie all die Male zuvor.
Sie war im Reinen mit sich und allen, deren Leben sie berührt, in deren Weg sie getreten war. Weil sie glaubte, dass der Tod nicht die letzte Station war, sondern nur eine auf der Reise durch Zeit und Welt.
Sie war zufrieden.
Was nichts daran änderte, dass sie sich manchmal wunderte, ob sie nicht auch anders Zufriedenheit erlangt hätte – und obendrein vielleicht auch noch glücklich geworden wäre, was immer darunter zu verstehen sein mochte.
Gewiss war eines: Viele Leben wären dann anders verlaufen …
Mit geschlossenen Augen sah sie die Menschen und Orte, deren Musik sie spielte. Jeder Mensch, jeder Ort trug seine ganz eigene Melodie in sich. Und sie besaß die Gabe, davon war sie überzeugt, diese Melodien befreien, hören, einfangen und bewahren zu können.
Jede davon hatte sie in eine Nocturne gefasst und nach ihrem Ursprung benannt.
Arnaud …
Ihr liebstes Stück. Die schönste aller Weisen, die je ihr inneres
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