Das Prometheus Projekt
ausgeliefert hatten.
„Miriam?“ Die Stimme der Seelenhüterin hallte scharf durch den leeren Speisesaal. „Der Täufer will dich sprechen. Sofort.“
Miriam wandte sich um und starrte die dürre Frau zornig an. Ihre blauen Augen blitzten. In diesem Moment fühlte sie sich stark genug, um es mit dem Täufer aufzunehmen. Niemand würde sie hier länger festhalten.
Niemand.
Als sie wenige Minuten später im karg eingerichteten Zimmer des Sektenführers stand, war sie sich ihrer Sache nicht mehr so sicher. Der Täufer sah an diesem Mittag gar nicht wie ein harter Mann aus. Er wirkte blass in seiner weiten, weißen Tunika und barg den Kopf in den Händen, als lese er angestrengt in der Bibel. Als sich die Tür hinter Miriam schloss, sah er kurz auf, faltete die Papiere zusammen, in denen er gelesen hatte, und legte sie in die Schreibtischschublade. Eine Weile betrachtete er sie stumm. Schließlich sagte er: „Mir scheint, du fühlst dich nicht mehr recht wohl bei uns, Miriam.“
Die junge Frau öffnete den Mund, um einen Einwand vorzubringen, aber er machte eine abwehrende Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete. „Du bist in einem schwierigen Alter, Miriam.“ Er lächelte dünn. „Ich kann dich sehr gut verstehen. Du fühlst dich einsam, unverstanden und du bist neugierig auf die Welt dort draußen.“
Das hatte Miriam nicht erwartet. Seine Worte brachten sie ausdem Konzept. Sie spürte, wie ihre Wut verrauchte. „Ich möchte doch nur wissen, wo Josua ist“, sagte sie.
Der Sektenführer legte wieder den Kopf in die Hände, als wöge die Last seiner Verantwortung schwer. „Josua“, sagte er. Er stützte die Hände auf die Tischplatte und stand auf.
„Josua ist fort. Er ist den Verlockungen der Welt erlegen. Es ist seine Entscheidung. Du weißt, dass wir niemanden hier gegen seinen Willen halten.“
In Miriams Augen schimmerten Tränen. Sie hatte es nicht glauben wollen, aber aus dem Mund des Täufers klang es endgültig.
„Mir ist natürlich nicht entgangen, dass ihr beide euch angefreundet habt. Es tut mir aufrichtig Leid, wenn er dich enttäuscht hat.“ Er wanderte zum Fenster hinüber und blickte eine Weile hinaus. Miriam ließ ihre Blicke durch den Raum wandern und stutzte. Da war etwas gewesen, was nicht hierher gehörte, etwas, was wichtig genug war, um ihre Traurigkeit zu durchbrechen.
Der Täufer blickte noch immer aus dem Fenster. Miriam bewegte sich einen Schritt nach links, um besser sehen zu können. Da! Sie hatte sich nicht getäuscht. Die Tür des alten Eichenschrankes in der Fensterecke stand einen Spalt offen. Die Zugluft des offenen Fensters ließ die Schranktür aufschwingen. In dem Schrank verborgen stand ein Computer. Sie konnte deutlich den dunklen Bildschirm sehen. Dieser Anblick nahm sie so gefangen, dass sie ihren Blick erst abwandte, als sie hörte, wie der Täufer das Fenster schloss.
„Nun, Miriam“, begann er. „Es betrübt mich, dich so traurig zu sehen. Darum möchte ich dir helfen. Es ist durchaus üblich, dass die Mitglieder unserer Gemeinschaft untereinanderFreundschaften und Verbindungen eingehen. So soll es schließlich sein. Du bist in einem Alter, in dem du daran denken solltest.“ Sein schmaler Mund lächelte, aber seine Augen strahlten Kälte aus. „Was hältst du von Gideon? Er wäre der ideale Partner für dich.“
Miriam fuhr herum. Hatte sie richtig gehört?
„Gideon?“, rief sie erschrocken. Gideon war ein grober Klotz. Er war verschlagen und heimtückisch und galt selbst bei den Eifrigsten als Speichellecker des Täufers.
„Du solltest dich mit dem Gedanken vertraut machen“, sagte der Täufer und nickte bekräftigend. „Er hat großes Interesse an dir. Und er ist ein guter Mann.“
Er machte eine Pause und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber wie du ja weißt, niemand zwingt dich dazu. Es würde mich zwar sehr schmerzen, aber du kannst jederzeit unsere Gemeinschaft verlassen, wenn du dich in unserer Mitte nicht mehr zu Hause fühlst.“
Gideon! Miriam wurde schlagartig klar, dass ihr vorschneller Entschluss, die Sekte zu verlassen, nur eine Träumerei war. Ebenso gut hätte sie versuchen können, an einer Bohnenstange auf den Mond zu klettern. Sie wusste nichts von der Welt. Gar nichts. Ohne Hilfe war sie verloren. Außerdem bedeutete dieser Schritt, alles was sie kannte, zurückzulassen – und sei es noch so fade. Das alte Internat war trotz allem ihr Heim.
Es war schon vorgekommen, dass der Täufer die Paare
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