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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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dich nicht in Schwierigkeiten bringen, ich halte dich nur auf.«
    »Unsinn!«, rief ich, fast eine Spur zu laut. »Wir gehen beide, oder wir gehen gar nicht. Solange ich weiß, dass du noch hier im Haus bist, werde ich keine Nacht mehr ruhig schlafen. Lass dich fallen, ich fang dich auf.« Ich hatte keine Ahnung, ob ich das konnte, ich hatte so etwas nie zuvor getan, aber Lucy sah aus, als wäre sie nur Haut und Knochen, und konnte wirklich nicht viel wiegen. Ich musste ihr noch ein bisschen zureden, doch dann ging sie auf die Knie, hielt sich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest und ließ vorsichtig ihre Beine nach hinten hinunter, dass ich nur an sie herantreten und sie vorsichtig von der Wand pflücken musste wie eine reife Birne. Sie war schwerer als gehofft, aber ich hielt sie sicher in meinen Armen und fühlte ihre Muskeln unter der Haut, das Zeugnis harter Arbeit. Sie war so warm und lebendig, was für ein Unterschied zu Blanche, die weich war und kalt – am liebsten hätte ich sie gar nicht mehr losgelassen!
    »Siehst du, jetzt hast du es geschafft!«, sagte ich, als wir endlich beide im bleichen Licht vor dem Haus standen. Irrte ich mich, oder wurde es schon langsam hell? Ich wusste nicht, wie viel Uhr es war, wie viel Zeit wir vertrödelt hatten, aber wir mussten schleunigst zusehen, dass wir Land gewannen. Der mit Kies bestreute Weg schien zu leuchten, als wolle er uns freundlich den Weg weisen, und ich freute mich schon, dass ich jetzt endlich die Auffahrt hinauflaufen konnte und sehen, wie Hollyhock von weitem durch die Bäume schien. Dann schüttelte ich den Kopf, ich hatte wirklich Besseres zu tun.
    »Es ist so dunkel hier«, sagte Lucy. »Ich dachte, draußen wäre es heller als drinnen, aber ich seh ja gar nichts.«
    Der Weg, was war mit dem? Aber ich fragte nicht nach. Wer Kokons und Seelen anstelle von Puppen sehen konnte, der sah vielleicht auch im Finsteren einen Weg, als wäre er aus Silber geflochten. Wenn zumindest eine von uns etwas erkennen konnte, sollte mir das recht sein. »Komm, nimm meine Hand«, sagte ich und freute mich wieder, wie gut sich ihre Hand anfühlte, warm und kräftig wie Alans, aber schmaler und kleiner, dass sie noch besser in meine zu passen schien. »Ich kann gerade für uns beide sehen, und wenn wir einmal auf der Straße sind, kommt vielleicht auch der Mond heraus.«
    Wir trauten uns nicht zu rennen. Lucy ging vorsichtig, setzte einen Fuß vor den anderen und tastete mit der freien Hand vor sich, und ich begriff, dass sie wirklich gar nichts sehen konnte. In Hollyhock war es vielleicht nicht viel besser gewesen, aber da kannte sie sich aus, wusste, wie sich das Haus unter ihren Füßen anfühlen musste. Es war vertraut. Hier draußen war sie eine Fremde. Aber ich fühlte, wie eine gute Aufregung von mir Besitz ergriff. Auf der einen Seite war ich vollkommen ruhig, auf der anderen wusste ich, dass die ganze Welt mir gehörte, wenn ich nur bereit war, sie mir zu erobern.
    »Wohin gehen wir jetzt?«, hörte ich Lucy fragen mit einem unsicheren Zittern in der Stimme, das mir verriet, dass ihre Träume keinen Zirkus beinhalteten.
    »Erst mal zum Tor«, sagte ich, »und dann weißt du doch bestimmt, wie der nächste Ort heißt, und wie wir dahin kommen, du bist doch von hier, oder?«
    Lucy nickte. »Das ist Malvern, aber bis dahin sind es acht Meilen, und wenn wir da auftauchen …«
    »Bei deiner Familie?«, sagte ich. »Glaubst du nicht, dass sie uns helfen?« Meine Vorstellung von Familie war, dass man sie hatte, damit sie in genau so einem Moment helfen konnte.
    »Ich kann doch nicht einfach so wieder angelaufen kommen«, sagte Lucy kläglich. »Sie waren so stolz, als mich Mr. Molyneux in Anstellung genommen hat; jetzt werden sie doch denken, er hätte mich aus dem Haus gejagt.«
    Ich musste nur kurz überlegen, endlich halfen mir meine Schauerromane einmal weiter. »Du bist ein hübsches Mädchen«, sagte ich. »Wenn wir sagen, Mr. Molyneux hat sich dir genähert, dich geschändet –«
    »Nein, das können wir nicht machen!« Jetzt überschlug sich Lucys Stimme vor Panik. »Dann denken sie, ich habe ihn verführt, ich bin selbst schuld. Niemand glaubt einer Scheuermagd! Wir konnten froh sein, dass Mr. Molyneux so was nicht tun würde, wirklich, sie waren doch immer gute Herrschaften …«
    »Aber sie sind keine guten Menschen«, sagte ich. »Dann sagen wir, er hat mich geschändet, ich trage seine Frucht, und er will mich töten. Darum hilfst du mir, von dort zu

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