Das Puppenzimmer - Roman
meine Augen waren offen, und ich war wach – nur mein Bewusstsein, das war fort bis zu dem Moment, da ich mich wieder als Herrin meiner selbst fand. Was dazwischen lag, vermochte ich nicht zu sagen, aber irgendwie musste ich dorthin gekommen sein: Ich saß auf meinem Platz an der Tafel im Speisesaal, und ich trug wieder mein weißes Kleid. Was aus Evelyns geworden war, ob sie es wiederbekommen und wer mich angezogen hatte – nichts, ich hatte keinerlei Erinnerung daran. Alles, was ich wusste, war, dass ich jetzt an diesem Tisch saß, an einem Ende, und am anderen saßen Rufus, Violet und Blanche und schauten mich an, so erwartungsvoll, als wüssten sie genau, dass ich ab diesem Augenblick wieder in der Lage war, mich zu verteidigen, oder auch, mir ihre Vorwürfe anzuhören. Und dass sie böse auf mich waren, alle drei, sah ich auch über eine acht Meter lange Tafel hinweg. Vor allem Blanche starrte mich so feindselig an, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
»Das war unklug von dir, sehr unklug«, sagte Rufus leise und bedrohlich – er musste nicht schreien, damit seine Stimme in meinen Ohren stach. »Es ist eine Sache, wenn du versuchst, davonzulaufen – wirklich, ich hatte schon viel früher damit gerechnet, und wie du gesehen hast, haben wir Vorkehrungen dagegen getroffen. Es ist erstaunlich, wie lang du trotzdem durchgehalten hast. Aber deine fatale Neigung, dich mit dem Personal zu verbünden … Musstest du unbedingt das Mädchen mit hineinziehen? Kannst du dir nicht vorstellen, was du ihr damit angetan hast?«
Ich biss mir auf die Lippe und kämpfte mit mir, um überhaupt wieder Wörter zu finden. Mein Mund war angefüllt mit einem Geschmack, den ich nicht beschreiben konnte: Auf der einen Seite war er wie die fremden Blumen, die ich in der Nacht gerochen hatte, auf der anderen böse und stechend, und je mehr ich darauf achtete, desto übler wurde mir davon. Aber ich musste nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage legen, um ja nicht das Falsche zu sagen. Es war zu spät, den Molyneux’ noch das brave, folgsame Mädchen vorzuspielen. Wir konnten alle unsere Masken fallen lassen. »Ich wollte sie nicht hier zurücklassen«, sagte ich. »Nicht, nachdem ich herausgefunden hatte, was Sie sind.«
»So?«, fragte Rufus glatt. Oh, er wollte seine Maske behalten, ich wusste es genau. »Und was hast du der Kleinen gesagt? Alles?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur, dass sie mit mir fliehen muss. Und dass es hier schlechte Leute gibt.«
Rufus nickte. »Etwas in der Art habe ich mir gedacht«, sagte er und lächelte. »Und so machst du eine unschuldige Küchenmagd zu einer Komplizin, die zu viel ahnt, um jetzt noch in ihr altes Leben zurückzukehren … oder überhaupt ins Leben.«
Ich fühlte, wie alles Blut aus meinem Körper wich. Lucy! Wenn die ihr etwas angetan hatten – oder antun würden … Einen Moment lang war ich starr vor Entsetzen, dann kochte die Wut in mir hoch, dass ich von meinem Stuhl hochschoss: Ich wusste nicht, was ich Rufus antun wollte, aber ich musste Lucy verteidigen, schon weil es meine Schuld war, was mit ihr geschehen sollte. Aber ich kam nicht weit. Violet machte nur eine kleine Geste, eine Bewegung mit ihrer Hand wie ein leichtes Winken, ein Lächeln auf ihren Lippen – und mich drückte es in den Stuhl zurück. Als wären eiserne Bände um meine Arme, meine Beine und meine Brust gelegt, konnte ich mich nicht mehr rühren.
»Du wirst sitzen bleiben«, sagte Violet, »bis wir es dir gestatten, aufzustehen.«
»Aber, Lucy …«, brachte ich hervor, unter Schmerzen, weil ich kaum mehr atmen konnte. »Was ist mit ihr, haben Sie sie umgebracht?«
Jetzt war es wieder Rufus, der lächelte. »Das fragst du noch? Sagtest du nicht, du hättest uns durchschaut?«
»Sie dürfen ihr nichts tun!«, schrie ich. »Sie kann nichts dafür. Sie wollte noch umkehren, ich habe sie dazu gezwungen –«
»Das weiß ich alles«, sagte Rufus, »und darum geht es nicht. Es geht nur darum, dass ein Mädchen jetzt mehr weiß, als es wissen darf. Hat dir die Lektion mit dem Burschen nicht gereicht? Wie vieler Dienstboten müssen wir uns noch wegen dir entledigen, bis du …«
Mein Kopf schwirrte, ich hörte die Worte kaum noch. Alan! War Alan … Ich zitterte hilflos. Aus dem Haus gejagt, das hatten sie gesagt, aus dem Haus gejagt, und ich hatte ihnen geglaubt … Ich fing an zu weinen, mehr konnte ich nicht tun, stiller Zorn und wilde Trauer, alles in mir wütete durcheinander, ich brachte kein Wort mehr
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