Das Puppenzimmer - Roman
meine Haare oder ich, nur einer von uns konnte frei sein. Aber auf die Haube verzichtete ich. Die trug man bei der Arbeit, nicht auf der Landstraße, da hätten wir Hüte gebraucht, und Mäntel, und warme Sachen, aber es half nicht, eine Flucht war wild und planlos. Ich wollte erst einmal raus aus dem Haus und dann weitersehen.
Lucy stellte keine Fragen. Wenn überhaupt, schien sie erleichtert. Wir hielten einander im Arm wie Freundinnen, sprachen uns Mut zu, und dann begann die Flucht.
Wäre ich allein gewesen, ich hätte gewusst, welcher Weg in die Freiheit der beste war: Mit dem Bettlaken aus dem Fenster abseilen, dann über das Dach des Anbaus balancieren und auf der anderen Seite herunter, dort, wo die hohen Sträucher wuchsen und man leicht hinunterklettern konnte. Aber von Lucy konnte ich nicht verlangen, dass sie über einen Dachfirst turnte. Erst, als ich darüber nachdachte, begriff ich, dass ich keine Ahnung hatte, wozu die Anbauten überhaupt dienten. Alle Zimmer, die ich kannte, lagen im Haupthaus. Aber das würde ich nun nicht mehr herausfinden; in diesem Moment, in dem ich wählen musste zwischen den Geheimnissen von Hollyhock und meinem eigenem Seelenheil, gab es kein Zögern.
So ging es auf Zehenspitzen über den Flur und die Treppe hinunter. Wir blieben im Dienstbotentreppenhaus – normalerweise nahm ich ja den Weg durch das Erdgeschoss, an den Zimmern der Herrschaften vorbei und die große Treppe hinunter, schon weil ich es durfte, aber dieses Mal ging es direkt und ohne Umwege in den Keller. Wir wollten den Seitenausgang nehmen. Aber er war versperrt.
»Oh«, sagte Lucy, »ich dachte, hier steckt immer der Schlüssel.« Aber da war keiner zu sehen. Es gab zwei schwere Riegel, die ich mit Müh und Not lösen konnte, aber davon kamen wir nicht ins Freie. Die Tür blieb zu.
»Die Haupttür brauchen wir gar nicht erst zu versuchen«, antwortete ich. »Bei der weiß ich auch so, dass Mr. Trent sie verschlossen hält, und wir können schlecht bei ihm einbrechen und ihm die Schlüssel stehlen, das würde er sofort merken.« Da standen wir nun, großartige Ausbrecherinnen, die wir waren. Aber ich war nicht auf den Kopf gefallen, vor allem, wenn etwas auf dem Spiel stand, und ich war schon einmal aus diesem Haus hinausgekommen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Lucy. »Wir können wieder umkehren, noch hat ja niemand was gemerkt.«
Ich grinste sie an, auch wenn sie das im Dunkeln nicht sehen konnte. »Wir steigen aus dem Fenster«, sagte ich. »In der Bibliothek, warst du da schon mal drin?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Keine Nachttöpfe«, sagte sie, und ich fragte mich, wie sie es schaffte, dabei ernst zu bleiben, »und nur Teppich auf dem Boden, deswegen muss ich da auch nicht schrubben.«
»Sie hat ein schönes großes Fenster«, sagte ich. »Du wirst schon sehen.« Ich hoffte, dass Lucy zumindest ein bisschen vom Klettern verstand, aber ich war ja auch noch da, um ihr zu helfen.
Um zur Bibliothek zu gelangen, mussten wir durch die Halle – egal, ob wir durch die Haupttür kamen oder die geheime. Wir schlichen über die Fliesen, als könne jeder Schritt uns verraten: Beide waren wir schon einmal mit einem plötzlich auftauchenden Mr. Trent zusammengestoßen, und selbst wenn es gerade mitten in der Nacht war, Mr. Trent war der Nächste im Haus, der aufstehen würde, und wer wusste, auf welche Uhrzeit er seinen Wecker gestellt hatte? Aber der Mann war nirgendwo zu sehen. Unsere Schuhe machten kein Geräusch, wir atmeten leise, alles war perfekt – und dann ließ etwas uns zusammenfahren. Keine Schritte. Nur ein seltsam verzweifeltes Brummen … Bis wir herausfanden, dass da am Fenster ein einsamer Nachtfalter herumschwirrte und immer wieder gegen das Glas schlug, vergingen bange Momente, in denen wir uns nicht rührten und die Luft anhielten. Danach atmeten wir erleichtert durch, betraten die Bibliothek, und dann war es ein Leichtes, das Fenster zu öffnen, durch das wir in die Freiheit klettern wollten. Ehe jemandem auffiel, dass die Bibliothekstür nicht mehr abgeschlossen war, waren wir schon längst über alle Berge.
Ich kletterte aus dem Fenster, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan, aber dann saß Lucy auf der Fensterbank, blickte bang hinunter und hatte offensichtlich doch mehr Angst vor dem Sprung, als ihr Hollyhock selbst und seine Bewohner einjagen konnten.
»Ich …«, fing sie an, und dann sagte sie: »Geh du allein, Florence, ich bleibe doch hier, ich will
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