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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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entkommen.« Das war schon in so vielen Geschichten vorgekommen, es musste doch auch mal in Wirklichkeit passieren. Aber die Geschichte fühlte sich falsch an. Es gab so viele Dinge, die ich Rufus hätte vorwerfen können – keine Verbrechen zwar, nichts, wofür man ins Gefängnis kam, aber dass er tief in seinem Inneren etwas Böses war –, aber ausgerechnet etwas zu erfinden, das so gar nicht zu ihm passen wollte … Was immer Rufus sein mochte, er blieb ein Gentleman, und er hätte sich nie mir oder jemand anderem unsittlich genähert. Trotzdem, wir brauchten etwas, um es der Familie zu erzählen, wenn sie uns helfen sollten, uns Unterschlupf, etwas zu essen oder vielleicht sogar Geld geben sollten. Ich ging davon aus, dass Lucys Familie arm sein musste, und vermutete, dass es noch einen ganzen Stall voller Kinder gab, aber irgendetwas würden sie schon für uns tun können. Wenn wir nur heil dort ankamen!
    »Weißt du, wie lang diese Auffahrt noch ist?« Ich hatte kein Gefühl, wie weit wir schon gegangen waren. Lucy, auch wenn ich ihr das nicht sagen durfte, hielt mich wirklich auf, so langsam ging sie, aber ich durfte nicht nur an mich denken. Ich war froh, sie bei mir zu haben. Der Weg schlängelte sich zwischen Baumgruppen hindurch. Wer immer ihn angelegt hatte, verstand etwas von Gärten und Parks, und wer ihn in Auftrag gegeben hatte, war kein ungeduldiger Mensch gewesen, sondern jemand, dem es nichts ausmachte, stundenlang in Serpentinen über sein Anwesen zu fahren, statt auf dem schnellsten Weg ans Ziel zu kommen.
    Lucy zuckte die Schultern. »Bei Nacht sieht alles so anders aus«, flüsterte sie, »aber wir müssten gleich zum Kutscherhaus kommen.«
    »Ist der Kutscher da?«, fragte ich. Den hatte ich nie beim Essen gesehen, aber wenn er so weit vom Haupthaus weg wohnte, wollte er vielleicht einfach seine Ruhe haben. Schon auf meiner Anreise war er mir etwas unheimlich vorgekommen, und da er auch derjenige war, der Rufus mitten in der Nacht nach London fuhr und zurück, verstand er vielleicht als Einziger genau, was hier vor sich ging – wir sollten uns vor ihm hüten. Als ich das Haus durch die Büsche auftauchen sah, fiel mir im oberen Geschoss ein Licht auf, und ich blieb kurz stehen. Wenn der Mann bereits auf war, um die Pferde zu versorgen, mussten wir besonders vorsichtig sein. Überhaupt, die Pferde – sie hatten viel feinere Ohren als wir. Wenn die uns hörten und dann unruhig wurden … Falls der Kutscher auf uns aufmerksam wurde, hatte er uns im Nu wieder eingefangen. »Und hat er eigentlich eine Frau?«
    »Er heißt Dodgeson«, sagte Lucy, »oder Hodgeson. Eine Frau hat er keine, warum?«
    Ich deutete in Richtung des beleuchteten Fensters. »Ich glaube, da bewegt sich etwas.« Das hätte ich besser nicht gesagt. Jetzt umklammerte Lucy meine Hand, als ob wir schon so gut wie erwischt waren. »Nein, das ist gut«, sagte ich schnell. »Wenn er gerade da oben ist, kann er nicht gleichzeitig unten bei den Pferden sein. Von oben bemerkt er uns nicht.« Ich sagte das so zuversichtlich, als glaubte ich selbst daran. »Wir schleichen uns am Haus vorbei, und dann sind wir bestimmt bald am Tor. Es wird nichts passieren.«
    Luft anhalten. Bücken, um kleiner zu sein, und dabei das Licht nicht aus den Augen lassen. Ich wusste nicht, ob das ein Fenster war oder nur eine offene Heuluke, aber dort bewegte sich in jedem Fall ein Mensch, und wer sollte es sein, wenn nicht der Kutscher? Mit gespitzten Ohren, jederzeit bereit, uns im nächsten Gebüsch zu verstecken, schlichen wir am Haus vorbei wie nächtliche Diebe. Als das Gebäude hinter uns lag, atmete ich erleichtert auf – uns war nichts geschehen. Und der silbern glänzende Weg musste auch bald an sein Ende kommen …
    Und das tat er auch. Direkt vor einer Mauer.
    Erst dachte ich noch, dass wir uns verlaufen hätten, dass der silbrig leuchtende Weg, dem ich in der Dunkelheit so eifrig gefolgt war, in Wirklichkeit gar kein Weg war, sondern etwas anderes. Am Ende war ich einer Täuschung aufgesessen, die mir die Schleimspur einer dicken Schnecke als etwas Großartiges zeigte, während ich den echten Weg links liegenließ und ihn genauso wenig sehen konnte, wie Lucy das tat. In jedem Fall standen wir vor einer Mauer. Sie war hoch und mit dornigen Rosen bewachsen, aber als ich mich vorsichtig vorwärtstastete, fühlte ich das Gestein, die Blätter und die Stacheln, und ich roch die Süße der Blüten, so sanft und schön, als wollte sie uns verhöhnen.

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