Das Puppenzimmer - Roman
fügte sich ein Stein zum anderen. Janet. Blanche war Janet. Ihre Seele war geschlüpft und hatte die Puppe als leere Hülle zurückgelassen. Und jetzt war sie in Blanche –
Die Gaze zerriss. Das Mädchen mit den Trauben verschwand. Aber der Traum endete nicht. Er fing gerade erst an. Und er wurde zu dem schlimmsten Alptraum, den ich jemals hatte.
Zwölftes Kapitel
Ich erwachte in Eiseskälte. Mein Bettlaken und meine Decke waren klatschnass von Schweiß und dabei so kalt, dass ich darauf lag wie auf einem zugefrorenen See. Und so fühlte ich mich auch, steif gefroren, dass ich mich nicht rühren konnte. Vielleicht war es eine Gnade, dass ich mich nicht mehr an alles aus meinem Traum erinnerte, aber so vieles war mir jetzt klar … Im Grunde meines Herzens hatte ich es die ganze Zeit über gewusst, aber erst jetzt begriff ich, wie sich die einzelnen Puzzlestückchen zusammenfügten: Rufus, der nach London fuhr. Alan, der den ganzen Tag lang Eis in den Keller schaffen musste. Blanche, bleich und kalt. Rufus, der nichts als die Todesanzeigen in der Times las. Die Seele einer Puppe, frei seit vielleicht einer Woche, im Körper eines Mädchens, das 14 Jahre alt sein sollte – alles ergab plötzlich einen Sinn. Und ich wusste mit Bestimmtheit, dass ich keinen Tag länger in Hollyhock bleiben durfte.
Ich stieg aus dem Bett und trat ans Fenster, mit schmerzenden Knochen und Muskeln, die ich kaum rühren konnte. Draußen war es finster und still. Ich stand da, zitterte und atmete die Nachtluft ein, während die dünnen Vorhänge mich umflatterten wie ein stiller Geist, doch ich spürte die Kälte nicht mehr. Wie spät es war, konnte ich nicht sagen. Der Himmel war verhangen, zeigte mir weder Mond noch Sterne, und Nebel kroch langsam aus dem Boden. Ich hielt mich an der Fensterbank fest, um langsam wieder zur Ruhe zu kommen, und versuchte zu denken.
Es war nicht nur Blanche. Wenn Blanche den Körper einer Toten hatte, dann waren Rufus und Violet das Gleiche, ihre Gesichter fahl, ihre Haut kalt wie Eis: Ich wusste nicht, was sie waren, böse Geister, lebende Puppen, und ich wollte es auch nicht mehr wissen. Ich wollte nur weg von hier, einfach nur weg. Aber ich würde nicht alleine gehen.
Als Erstes nahm ich den Vogelkäfig, der immer noch meinen ganzen Waschtisch blockierte, weil Blanche natürlich völlig vergessen hatte, dass sie mir auch noch den Ständer dafür hatte bringen wollen, aber den brauchte ich jetzt auch nicht mehr. Ich stellte den Käfig ans Fenster, schob es so weit hoch, wie es nur irgendwie ging, und öffnete die Käfigtür. »Los!«, flüsterte ich dem Zaunkönig zu. »Flieg! Du bist frei!«
Der Zaunkönig beachtete mich nicht. Er schlief auf seiner Stange und war nicht für die Freiheit zu begeistern, aber irgendwann würde er es merken. Ich ließ den Käfig auf der Fensterbank stehen, verkantete alles so, dass er stehen blieb und das Fenster offen, falls der Vogel es sich anders überlegte. Dann schlich ich aus dem Zimmer – ich suchte Lucy. Sie wohnte unter dem Dach, genau wie ich, aber ich wusste nicht, welches ihr Zimmer war. Ich durfte keinen Laut von mir geben, und ich betete, dass keine Tür quietschen, dass ich schon beim ersten Mal richtig raten würde.
Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Hier oben lagen die Räume aller Dienstboten, nur der Hausbursche musste unter der Kellertreppe schlafen, und ich hatte viele Möglichkeiten, den falschen zu erwischen. Hinter einer Tür hörte ich lautes Schnarchen von zwei Schläfern, hier vermutete ich Tom und Guy und machte einen Bogen darum. Ein einzelnes Schnarchen, und zwar von der wirklich fiesen Sorte, schrieb ich Mrs. Doyle zu, auch diese Tür rührte ich nicht an. Aber an einer Tür war es ganz still, und diese öffnete ich ganz vorsichtig. Lucy und Evelyn waren beides schmale, junge Dinger, die nicht viel Lärm beim Schlafen machen konnten. So langsam ich vermochte, schob ich die Tür auf und versuchte, etwas zu erkennen. Ich hatte kein Licht dabei, damit niemand mich sah, aber das hieß auch, dass ich selbst nichts sehen konnte. Von draußen fiel ein klein wenig Mondlicht herein, wann immer es ihm gelang, durch die Wolken und den Nebel zu dringen, aber selbst das machte keinen großen Unterschied. Es dauerte lange, bis ich die Umrisse ausmachen konnte und sehen, dass in diesem Zimmer nur ein einziges Bett stand. Es roch nach Talkum und Frauenschweiß, und ich vermutete, dass ich Dawkins gefunden hatte, die Zofe. So still, wie ich gekommen
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