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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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versuchte, mir vorzustellen, wie es ausgesehen haben mochte, ehe Waverly auftauchte und sich ans Werk machte, als es noch Miss Lavenders Garten war …
    Und dann überfluteten mich Fragen über Fragen. Wer war Miss Lavender, oder besser: Was war sie? Dass sie Rufus’ Tante gewesen sein sollte, glaubte ich längst nicht mehr, all diese Familienverhältnisse, der gemeinsame Name, das war nur Fassade. War Miss Lavender eine Fee und hatte die Puppen gesammelt, um ihrer Sippe einmal ein Leben in der Menschenwelt zu ermöglichen? War sie ein Mensch, und wenn ja, was wollte sie dann mit den Puppen? Nichts passte zusammen. Alles sprach dafür, dass sie eine Fee war – und dann gestorben, tot umgefallen, an Altersschwäche?
    Ich schüttelte den Kopf. Feen starben nicht einfach so. Aber ihre menschlichen Körper lebten nicht ewig. Wenn Miss Lavender die Erste gewesen war, die in die Menschenwelt zurückkehrte, dann nicht mit dem Körper einer Leiche, sondern in einem, der noch zu einem richtigen, lebendigen Menschen gehörte … Es half nichts. Ich konnte stundenlang über Miss Lavender grübeln, ohne dass ich zu einem Ergebnis gekommen wäre. Sie war tot, und ich würde von alleine niemals die Antworten bekommen, nach denen ich suchte. Meine Gedanken Jagd auf die Vergangenheit machen zu lassen, weil ich mich an die Gegenwart nicht herantraute, war dumm und feige. Ich musste zu einer Lösung kommen, bevor ich zum Haus zurückkehrte. Und zu allem Überfluss fing es auch noch an zu regnen.
    Erst tröpfelte es nur ein bisschen, gerade so, dass meine Haare feucht wurden und ich zum Himmel schaute, um zu sehen, was die Wolken machten, nur um dann die Tropfen direkt in Augen und Gesicht zu bekommen. Aber dann, während ich mich noch fragte, ob es sinnvoll war, mir einen Unterstand zu suchen oder gleich zum Haus zurückzulaufen, brach es richtig los. Ehe ich bis zehn zählen konnte, prasselte der Sturzregen auf mich hinunter.
    Das Haus war zu weit weg. Ich rannte zum nächstbesten Baum, aber der schien wenig Interesse zu haben, mir zu helfen; das Wasser rann einfach durch die Zweige, so dass ich unter ihm fast noch nasser wurde als unter offenem Himmel. Aber dann kam mir die alte Kapelle wieder in den Sinn. Sie war zwar versperrt, und daran würde ich auch nichts ändern können, aber das Dach stand ein Stück vor und sollte deutlich dichter sein als die Baumkrone. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, und eigentlich war es schon egal, ich war auch so bereits völlig durchnässt, aber ich lief trotzdem los. Das Gras unter meinen Füßen war rutschig, dass ich fast hingefallen wäre, aber ich schaffte es, heil an der Kapelle anzukommen.
    Endlich stand ich da, nass und atemlos, und ärgerte mich über mich selbst. Ich war jetzt noch weiter vom Haus weg als zuvor, und so wie es aussah, wollte der Regen nicht aufhören. Das hieß, ich musste noch einmal quer durch den Garten, um wieder ins Trockene zu kommen. Natürlich war ich jetzt erst einmal an einem einigermaßen sicheren Ort, aber nur, wenn ich mich rücklings gegen die Wand drückte, den Bauch einzog und mich freute, dass man mich selbst mit viel Wohlwollen nur als flachbrüstig bezeichnen konnte. Da ich in Hollyhock alles andere als zugenommen hatte, war mein vorstehendster Punkt immer noch meine Nasenspitze.
    Wenigstens würde ich nicht verhungern – es gab immer noch die Brombeeren. Mir fiel wieder ein, dass ich außer dem Feenwein seit zwei Tagen nichts gegessen hatte. Das mochte vielleicht einer Fee genügen, aber ich war ein Mensch mit einem menschlichen Magen, und die Brombeeren waren jetzt endlich reif.
    Natürlich wurde ich beim Pflücken wieder nass, aber wenigstens musste ich mir jetzt um das Kleid keine Sorgen mehr machen, es war so oder so ruiniert. Da kam es auf die Stacheln, die sich im Unterrock verfingen, und die Brombeerflecken auf dem weißen Stoff auch nicht mehr an. Ich stopfte mir den Mund mit Beeren voll und fühlte, wie mir der Saft die Lippen blutig färbte, spürte die feinen Borsten auf meiner Zunge, jede Beere eine Traube in Miniatur. Es war so gut, so großartig und köstlich, dass ich darüber sogar völlig den Regen vergaß.
    Ich spürte das Leben in mir, in jeder Faser meines Körpers, und es machte mich glücklich – ich wusste, das konnte nur ich, weder Blanche noch Violet noch Rufus würden jemals so lebendig sein wie ich in diesem Moment. Und wenn sie zehnmal zaubern konnten, wenn sie hundertmal unsterblich waren, es konnte mir

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