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Das Puppenzimmer - Roman

Das Puppenzimmer - Roman

Titel: Das Puppenzimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maja Ilisch
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egal sein, ich besaß etwas viel, viel Besseres: ein Leben und eine Seele, und beides gehörte mir. Wie lange ich an der Kapelle hockte, halb unter dem Dach, halb im Nassen, und Brombeeren aß, konnte ich nicht sagen, aber es war wohl eine ziemlich lange Zeit, in der ich die ganze Welt um mich herum vergaß.
    Endlich ließ der Regen nach, und die restlichen Beeren waren zu grün, hart und ungenießbar – der halbe Strauch stand sogar noch immer in Blüte. So beschloss ich, mich endlich auf den Weg zum Haus zurück zu machen. Das Gras war nass, der Boden weich, und ich musste mit meinen glatten Schuhsohlen aufpassen, dass ich nicht ausrutschte. Ich achtete auf meine Füße, um einen Bogen um die schlammigeren Stellen und das zu hohe Gras zu machen, welches nicht nur meine Schuhe, sondern auch die Strümpfe bis zum Knie nass machte, und dabei entdeckte ich etwas: Fußspuren. Es waren nicht meine, dafür waren sie zu groß; sie mussten von groben Schuhen oder Stiefeln stammen, und sie führten direkt zur Kapelle.
    Neugierig geworden, folgte ich ihnen und versuchte dabei, ein übles Gefühl zu unterdrücken. Das waren frische Fußabdrücke, die jünger sein mussten als der Regen, und da, wo sie hingingen, hatte ich eben noch gestanden … Dabei wusste ich genau, dass außer mir niemand dort gewesen war. Ich hatte nichts gesehen oder gehört, und doch sprachen die Spuren eine andere Sprache. Jemand hatte da gestanden, über längere Zeit, und mir zugesehen. Die Eindrücke waren tief und mit Regenwasser gefüllt. Irgendwann hatte derjenige, von dem sie stammten, kehrtgemacht und war weggegangen. Ich folgte ihnen, doch nach einiger Zeit verloren sich die Spuren dort, wo der Rasen gepflegter war. Ich war kein Spürhund, kein Jäger, und darauf angewiesen, dass Gras zertrampelt wurde und der Boden schlammig war, damit ich überhaupt etwas erkennen konnte. Aber ich war mir sicher: Diese Spur war zu deutlich, als dass ich sie mir eingebildet haben konnte.
    Wie Blitze brachen Bilder aus der vergangenen Nacht über mich herein. Ich, allein, an der Mauer, Lucy verschwunden, und hinter mir war jemand, den ich nicht sehen konnte … Plötzlich packte mich die Angst. Ich hatte vermutet, dass der Unsichtbare, der in der Nacht bei Rufus gewesen war, der Gärtner, der Kutscher, der Butler oder vielleicht einer der Lakaien gewesen sein musste – aber keiner von denen hätte einen Grund gehabt, mich jetzt, wo ich nicht mehr weglaufen konnte oder würde, wo ich nur ein wenig im Garten spazieren ging, zu verfolgen, zu beobachten, ohne sich dabei sehen zu lassen. Und doch war jemand hinter mir her, jemand, den ich nicht sehen konnte …
    Ich hörte auf, nach der verlorenen Spur zu suchen, und rannte zum Haus zurück. Die nassen Sachen klebten mir am Körper, meine Haut war kälter als die der Feen, und noch dringender als mein warmes Bett hätte ich ein heißes Bad gebraucht: Ich war drauf und dran, mich bei Blanche wieder lieb Kind zu machen, nur um ihr Badezimmer benutzen zu dürfen. Dann stand ich vor ihrer Tür, froh, überhaupt jemanden sehen zu können, selbst wenn es eine Fee war, aber als ich dann klopfte und keine Antwort kam, verließ mich der Mut. Ich schlich in mein Zimmer, riss mir das Kleid vom Leibe, rubbelte mich mit der Überdecke trocken und verkroch mich unter meiner Bettdecke. Blanches Vogelkäfig war wieder verschwunden, ob mit oder ohne Zaunkönig, wusste ich nicht, aber ich machte mir keine Gedanken darüber. Plötzlich griff nach mir eine Müdigkeit, die ich nicht abschütteln konnte, und kaum hatte sie sich bemerkbar gemacht, war ich auch schon eingeschlafen.
    Der Traum folgte dem Schlaf auf dem Fuße, doch er fühlte sich nicht an wie die Träume, die ich zuletzt gehabt hatte, die Träume von Flügeln und Kokons und Feen. Er handelte von Menschen, und nur von Menschen, und es kam niemand darin vor, den ich jemals im Leben getroffen hatte – noch nicht einmal ich selbst. Es war, als erlebte ich die Welt durch die Augen einer Fremden, als hätte ich einen Traum erhalten, der gar nicht für mich bestimmt war. Ich sah zwei Frauen, die an einer Tür miteinander redeten, die eine im Haus, die andere auf der Straße, doch ich sah sie von unten, blickte mehr in ihre Nasenlöcher denn in ihre Gesichter, und als ich mich aufrichten wollte, um mehr erkennen zu können, gelang es mir nicht. Ich lag auf dem Rücken, über mir der Himmel, links und rechts von mir Wände aus geflochtenem Bast, ein Korb oder eine Tragetasche.

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